Hauptbild
Richard Powers: Orfeo. Roman, Fischer, Frankfurt a. M. 2014, 496 S., € 22,90, ISBN: 978-3-10-059025-1
Richard Powers: Orfeo. Roman, Fischer, Frankfurt a. M. 2014, 496 S., € 22,90, ISBN: 978-3-10-059025-1
Hauptrubrik
Banner Full-Size

Die Verschmelzung von Lesen und Hörwunsch

Untertitel
Utopie allumfassender Befreiung
Publikationsdatum
Body

Beschriebene Musik kann wie „erzähltes Essen“ sein: reichlich unsinnlich – doch Richard Powers gehört zu den Ausnahmen. War schon sein Bestseller „Der Klang der Zeit“ ein ungemein sinnliches Jahrhundertbuch mit einem „farbigen Fritz Wunderlich“ im Zentrum und dessen Reise durch 800 Jahre Komposition, so signalisiert auch der Titel seines neuesten Buchs vielfältige Bezüge zur Musik. Moniert wurde schon, dass dem Buch keine CD beiliegt – und es ist wirklich so: Wann immer Powers seinen Protagonisten auf eine Komposition eingehen lässt, muss man als Leser aufstehen und sofort die entsprechende Scheibe auflegen.

Im Mittelpunkt steht mit Peter Els ein Musikstudent und Komponist, der auf die Biologie ausweicht. Er studiert in den „wilden“ Aufbruchsjahren und erlebt Schlüsselereignisse mit: Powers camoufliert perfekt John Cages „Musicircus“ vom November 1967 an der University of Illinois, den Powers wohl selbst miterlebt hat, und lässt Els dann Jahre mit zunehmend verstiegenen Avantgarde-Kompositionen verbringen. Kenntnisreich, unterhaltsam und sanft ironisch wird da auch die New Yorker Szene für experimentelles Musiktheater beschrieben, mit Anklängen an Warhols „Factory“, auch die Konzert-Realität, wo „mehr Personen auf dem Podium saßen als Publikum im Saal“.

Els flüchtet sich dann in den Broterwerb als Biologe, um als einsamer Rentner nach gescheiterter Ehe an dem Zusammenhang herumzuexperimentieren, dass Schallwellen im Körper Kettenreaktionen auslösen, die bis in die Gene reichen: Entschlüsselung und Speicherung von Klängen in der Doppelhelix der DNA – Bio-Komposition und Bio-Art… der Orfeo des 21. Jahrhunderts bei spezieller Flora und Fauna. Daran entzündet sich ein anderer Erzählstrang. Els hat sich ein kleines Bio-Laboratorium eingerichtet und darüber hängt ein arabisches Notenmanuskript aus dem 16. Jahrhundert; als all das durch einen Telefonzufall von der Homesecurity entdeckt wird, beginnt die amerikanische „9/11-Paranoia“ zu toben: FBI, Hausbeschlagnahme, Flucht des „Bioterroristen Bach“, NSA-Überwachung, Hüpfen von Versteck zu Versteck – ein „born in the USA“-Orfeo auf dem Weg in die „Hölle“.

Doch all dies und auch die zwischen Rückblenden und Handlungseinschnitten abgesetzt gedruckten musikalischen und kulturellen Aphorismen versinken, wenn Powers über Musik in Els’ und letztlich unserem Leben schreibt: von Pérotin bis George Crumb und Steve Reich – und dann mit vier Schwerpunkten. Der 18-jährige Els durchlebt mit Clara, seiner ersten Liebe, Mahlers „Kindertotenlieder“: Text, Instrumente, Komposition sind mit einer Intensität erfasst, die zum Nacherleben und sofortigem Nachhören zwingen und die zehn Druckseiten unvergesslich machen.

Zweiter Schwerpunkt wird Olivier Messiaens „Quatuor pour la Fin du Temps“. Eher nur Spezialisten werden die musik­historische Studie der Amerikanerin Rebecca Rischin lesen. Powers bettet diese Musik in die Kriegs- und KZ-Ereignisse von 1940-41, aber auch in einen Vortrag von Els mitten in seiner Flucht ein – und nicht nur das sprachliche Präsens macht auch diese 24 Buchseiten zu einem singulären „Musik-Erzähl-Erlebnis“. Als Parallelstrang läuft auf Els’ Flucht die lesend-hörend nachzuvollziehende Auseinandersetzung zwischen Schostakowitsch, Stalins Kulturapparatschicks und der 5. Symphonie – bravouröse Musikaktualisierung.

All das gipfelt in Els’ größtem Erfolg, dem über Meyerbeers „Prophète“ hinausführenden Musikdrama „Der Strick des Voglers“: Jan van Leyden und die Stadt Münster des Jahres 1534 werden zur Utopie allumfassender Befreiung gesteigert – und ihr blutrünstiges Scheitern mit dem FBI-Desaster um Waco 1993 parallelisiert, wobei Powers hier auch noch den regieführenden Freund von Els wie einen Vertreter des deutschen „Regietheaters“ agieren lässt und so die „Eurotrash“-Haltung amerikanischer Opernfreunde verspottet. Bei dieser faszinierenden Werk-Erfindung hilft kein Griff ins CD-Regal, doch ansonsten verschmilzt Powers Lesen und Hörwunsch wie kaum ein Zeitgenosse. Also sind dem Buch „alle“ Hörer und Leser zu wünschen.                 

Richard Powers: Orfeo. Roman, Fischer, Frankfurt a. M. 2014, 496 S., € 22,90, ISBN: 978-3-10-059025-1

Weiterlesen mit nmz+

Sie haben bereits ein Online Abo? Hier einloggen.

 

Testen Sie das Digital Abo drei Monate lang für nur € 4,50

oder upgraden Sie Ihr bestehendes Print-Abo für nur € 10,00.

Ihr Account wird sofort freigeschaltet!