1929 erklärt Paul Graener seinen Beitritt zum „Kampfbund für deutsche Kultur“. Warum? Immerhin hatte er Ämter bekleidet, Würden erlangt, war Musikdirektor am Royal Theatre und Kompositionslehrer an der Academy of Music in London, Kompositionslehrer am Wiener Konservatorium, Direktor des Mozarteums und der Musikschule Salzburg, Kompositionsprofessor am Leipziger Konservatorium und Ehrendoktor der Universität und Mitglied der Preußischen Akademie der Künste. Bereits 1920 verleiht ihm das Preußische Kultusministerium den Professoren-Titel, und als Komponist und Dirigent hat er zwischen 1920 und 1929 Aufträge und Aufführungen. Warum sollte einer, der sich noch dazu ohne Schul-, ohne Konservatoriums-, ohne Universitätsabschluss nach oben gearbeitet hatte, sich vom „System“, vom „bolschewistischen Kulturbetrieb“ gedemütigt fühlen?
Die Antwort darauf bleibt Graener-Biograph Knut Andreas schuldig, plädiert im Gegenteil auf Freispruch, indem er etwa „ab 1939 innere Distanzierung gegenüber dem NS-Regime“ konstatiert, nur um einzuschränken, dass Graener diese „nur bis zu einem gewissen Grad umsetzen konnte und wollte, da er auf die Unterstützung des Regimes insbesondere in finanzieller Hinsicht angewiesen war“. Opportunismus gehörte offenbar schon immer zu den erfolgreichsten Bürgertugenden. Wahrscheinlich wusste Graener selbst nur zu genau, warum er ausgerechnet im Februar 1933 als rüpelhafter Störer eines Berliner Hochschulkonzerts in Erscheinung getreten war, in dessen Folge Hochschuldirektor Georg Schünemann entlassen und der Störer befördert wird.
„Begabt, aber faul.“
Wien, 1895. Gerade ist der 23-jährige Aushilfsdirigent Paul Graener in der k.u.k.-Metropole angekommen, da führt ihn sein erster Weg zu Brahms. Die Begegnung verläuft kurz und schmerzhaft. Erst stolpert Graener über das Bild, das er sich vom „Meister“ zurecht gelegt hatte, dann über sich selbst. „Einem ziemlich beleibtem Herrn, der zu meinem Empfang mit nichts bekleidet war, als mit einem Paar Hosen, einem wollenen Jägerhemd und einer mächtigen Brille“, legt er beflissen seine Arbeiten vor – humoristische Lieder, vaterländische Chormusik. Die Abfuhr folgt auf dem Fuße. Der „Kapellmeister ohne Ausbildung“, wie Andreas den Beginn dieser zwischen Musik und Politik changierenden Künstlerlaufbahn treffend kennzeichnet, schaut unvermutet in den Spiegel. „Dass er mich für einen Stümper erachtete, das war bitter!“ Eines der ehrlichsten Worte, die Paul Graener über sich mitgeteilt hat, stammt aus dem Munde des im „wollenen Jägerhemd“ auftretenden Brahms: „Begabt, aber faul.“
Was der junge Graener aus diesem harten Aufprall gelernt hat, wäre die Frage, die sich eine Biographie vorzulegen hätte. Der Unterricht am Veit’schen Konservatorium, den Graener noch als Schüler des Berliner Askanischen Gymnasiums bei Albert Becker in Violine, Klavier, Komposition erhält, hat offenbar nicht gereicht, um gesichertes Handwerk, geschweige denn Handschrift zu erlangen. Soviel ist Brahms’ harscher Reaktion ohne weiteres zu entnehmen. Noch spätere Rezensenten, auch die aus Graeners englischem Intermezzum (1896–1910), legen den Finger in eben diese Wunde einer fehlenden, unzureichenden Ausbildung. Demhingegen springt Autor Andreas umstandslos von den „Wanderjahren (1914–1920)“ in die „Kompositionsjahre (1920–1929)“, womit eigentlich nur die Möglichkeit des Selbststudiums bleibt. Doch wie und womit? In einer Fußnote erwähnt Andreas, dass sich Graener in seiner zweiten Wiener Zeit über die Universal Edition Schönbergs Kammersinfonie sowie dessen Harmonielehre ausgeliehen und an Hertzka begeistert von „großer Freude u. Überraschung“ geschrieben habe. Nur, was ist davon eingegangen ins Werk? Und: Wie passt es zur nazistischen Kehrtwende des Künstlers, die ihn über Nacht in die höchsten Musik-ämter des NS-Staates katapultiert?
Dank Hans Hinkel, dem Duzfreund aus alten Kultur-Kampfbund-Zeiten, dem nun mächtig gewordenen Staatskommissar im Preußischen Kultusministerium steigt Graener auf: 1933 Präsidialrat der Reichsschrifttumskammer, kurzzeitig Präsident der Verwertungsgesellschaft Stagma, 1934 Nachfolger der entlassenen Professoren Franz Schreker und Arnold Schönberg an der Preußischen Akademie der Künste, 1935 Vizepräsident der Reichsschrifttumskammer und 1936 gesegnet mit einem warmen Regen von ganz oben. Der erste Mann im Staate überweist 30.000 Reichsmark.
Cash gegen Huldigung
Andererseits: Im Karrieristen, im Opportunisten Paul Graener steckt auch ein ehrgeiziger Künstler. Als Komponist bedient er alle Gattungen, schreibt viel Vokal- und auch Kammermusik, eine Operette, ein Singspiel, zehn Opern. Die sorgsam recherchierte Dokumentation dieses Œuvres sowie einige exemplarische Analysen (etwa die der 1910 bei der Wiener UE verlegten Symphonietta) zählen zu den Stärken dieser Monographie. Knut Andreas unterscheidet drei Werkgruppen: Werke ohne, solche mit Opuszahl sowie ein von Graener begonnenes, später abgebrochenes und als Steinbruch benutztes Verzeichnis von Frühwerken. Das Werkverzeichnis letzter Hand umfasst 116 Opusnummern, lässt aber manche Ziffern unbesetzt. Zur Erklärung verweist Andreas auf lückenhafte Überlieferung, auf Quellenverluste. So naheliegend eine solche Annahme natürlich ist – das in der Autobiographieforschung bekannte Moment der Selbststilisierung bleibt undiskutiert.
Unkommentiert die Manöver, mit denen Graener seinen Werkkatalog bis auf Brahms-Höhe 116 schraubt und darin auch einige der seinerzeit vom „Meister“ zurückgewiesenen Frühwerke aufnimmt, woran sich 1923 ein Rezensent der Wiener Zeitschrift für Musik stößt. Und weitgehend unter den Tisch fällt auch die Frage nach den Auswirkungen der von Graener selbst offenbar höchst schuldhaft erlebten unehelichen Herkunft, die sich im eigenen, verheimlichten unehelichen Lebenswandel fortsetzt, dem großen Tabu dieses seltsam heimatlos, ohne Erdung, ohne Ziel sich darstellenden Lebens. Dagegen vermittelt die vorliegende Monographie über weite Strecken den Eindruck einer Ehrenrettung am untauglichen Objekt. Es ist das Liederliche, das Doppelbödige, das diese Figur umgibt, wofür der wissenschaftspositivistische Ansatz dieser Biographie keinen Blick hat.