Eher eine Kriminal-Akte? Am 20. Juli 1968 um 19.45 Uhr tönte „So stürben wir, um ungetrennt …“ in der „Tristan“-Aufführung von der Bühne des Nationaltheaters – und GMD Joseph Keilberth stürzte sterbend vom Dirigentenpult. Am 21. Juni 1911 – „Todgeweihtes Haupt! Todgeweihtes Herz!“ hatte Isolde eben gesungen – brach der Königlich Bayerische GMD Felix Mottl am Pult seiner 100. „Tristan“-Aufführung zusammen; er lebte noch wenige Tage und starb am 11. Juli. Nicht genug: 1863 war Wagner durch den jungen Monarchen Ludwig II. von Bayern aus Schulden und Verzweiflung nach München gerettet; Ludwig begeisterte sich für die Uraufführung des epochemachenden „Tristan“ an seiner Hofoper; auch er schätzte das von Wagner entdeckte Sänger-Ehepaar Schnorr von Carolsfeld. Tenor Ludwig von Carolsfeld lag als Tristan stundenlang auf dem zugig-kalten Bühnenboden. 1865 großartige Uraufführung, zusammen mit seiner Frau als Isolde eröffnete sich dem neuen Typus „Wagner-Sänger“ eine große internationale Karriere – doch drei Aufführungen später war der 29-Jährige tot … eine Legendenbildung um den „tödlichen Tristan“ setzte ein … und zu alledem lieferte das Königliche Hoforchester bis heute gleichsam die Begleitmusik.
Ein halbes Jahrtausend voller Krimis
Natürlich erzählt das gewichtige Buch nicht so reißerisch eine viel größere Geschichte. Herausgeber Florian Amort hat schon den Umschlag überlegt gestalten lassen: Buchstaben fehlen – so wie es in der Orchestergeschichte Lücken gibt – am schmerzlichsten zu den Jahren von 1933 bis 1945, als die braunen Kulturbarbaren auch das Münchner Musikleben arisch-teutsch umgestalteten. Ob zu den fehlenden staatlichen Akten nicht in Gewerkschafts- oder Parteiarchiven sowie privaten Nachlässen mehr zu finden wäre, konnte – wie im Buch-Pendant zur Operngeschichte – zeitlich wie finanziell nicht erarbeitet werden.
Dafür kommen zu den meisten anderen Aspekten viele Kenner zu Wort. So wird der chronologische Bogen natürlich stolz gespannt: vom ab 1523 tätigen Allround-Komponisten Ludwig Senfl weiter etwa zu Kurfürst Karl Theodor, dessen übersiedelte „Mannheimer Kapelle“ europaweit für ihre Kontrastdynamik bei Forte-Piano berühmt war, für das so bislang unerhörte Crescendo, das fulminante Unisono und die enorm wuchtigen Akkordschläge; ab 1778 setzten „Cannabich und seine Soldaten“ – der Dirigent und seine erstklassigen Instrumentalisten – neue Maßstäbe für Orchesterkultur und prägten die Entwicklung der Sinfonik bis in die Mitte des 19. Jahrhunderts. Dazwischen Mozart und die Uraufführung des „Idomeneo“ 1781, später ein Rossini-Fieber.
Dem gewachsenen bürgerlichen Musik-Interesse trug das Orchester als Vorreiter Rechnung: schon ab 1811 zielte die neueingerichtete Reihe der „Akademie-Konzerte“ abseits höfischer Kunstorganisation auf das Bürgertum als Abonnenten und Besucher. Dann folgt das „Kapitel Wagner“, über „Tristan“ hinaus mit „Meistersinger“, Skandalen, „Rheingold“, „Walküre“, dem Orchester als Rückgrat der Bayreuther Festspiele ab 1876. Später begann eine Richard-Strauss-Tradition.
Gut fünfzig von dreihundert Seiten sind prägenden Dirigenten bis zu Kirill Petrenko gewidmet: keine Star-Hochglanzfotos, sondern analytische Porträts, in denen die Orchesterqualitäten gewichtet werden. Erfreulicherweise sind auch der Kampf um den besten Nachwuchs, die eigene Nachwuchs-Akademie „Hermann Levi“, der Alltag wie die Museumsreife von Instrumenten – „von der Bühne zur Vitrine“ – dargestellt. Ein eigenes Kapitel ist den weit unterschätzten, meist nicht sicht- oder hörbaren körperlichen wie mentalen Anforderungen an Orchestermusiker gewidmet; so hat die Nachwuchs-Akademie eine eigene Diplompsychologin, die als ehemalige Olympionikin körperliche wie geistige Belastungen bei Jugendlichen zu behandeln weiß; das Orchester pflegt eine Kooperationsvereinbarung mit einer Physio-Osteo-Praxisgemeinschaft.
Zurück zum ausstrahlenden Wirken führen die letzten Kapitel. Da wird die frappierende Fülle der Auftrittsorte ausgebreitet: vom höfischen Tanz- und Ball-Saal zum bürgerlichen „Odeon“ und weiter zu Cuvilliés-, Prinzregenten- und Nationaltheater – doch daneben eben auch zu nahezu allen adeligen Schlössern, Turnier- und Redouten-Sälen sowie später den Freilichtaufführungen in den Höfen der Residenz. Erstaunlicherweise gehören von Anfang an „Gastspielreisen“ dazu: zunächst Reichstage in Augsburg oder Wien, dann etwa Eisenbahn-Einweihungen in Nürnberg oder Mozart-Gedenktage in Salzburg. Einen Höhepunkt stellt die „Parsifal“-Uraufführung 1882 durch das Hoforchester im verdeckten Bayreuther Orchestergraben mit seiner völlig veränderten Sitzordnung dar. Erstaunlicherweise kommt es mitten im 1.Weltkrieg mit Bruno Walter am Pult zu einem „Palestrina“-Gastspiel in Zürich. In der NS-Zeit gastierte das Staatsorchester aus der „Hauptstadt der Deutschen Kunst“ in einigen Hauptstädten der besetzten Länder. Immerhin schon 1953 erfolgte eine Gastspiel-Einladung in Londons Covent Garden.
Die modernen Reisemöglichkeiten gipfelten 1974 im ersten Japan-Gastspiel der gesamten Staatsoper; Europa-, Asien- und Amerika-Tourneen folgten. Das Jubiläumsjahr 2023 setzt dies fort: ein Gespräch mit dem jetzt schon, in seinem dritten Jahr höchst beliebten GMD Vladimir Jurowski steht am Ende des Buches; mit ihm unternahm das Staatsorchester eben eine Europa-Tournee mit drei verschiedenen Programmen und Solisten zwischen Meran und Wien, Luzern, Berlin, Hamburg, Paris und London… mitsamt einer Protest-Klebe-Aktion an seinem Pult in Luzern, die Jurowski ernsthaft zu Wort kommen ließ um dann wieder Klänge sprechen zu lassen – also „in Bewegung geblieben“ in vollem Bewusstsein seiner Tradition – das kennzeichnet das Bayerische Staatsorchester im Buch wie in der musikalischen Realität.
- 500 Jahre gelebte Tradition. Das Bayerische Staatsorchester, hrsg. von Florian Amort, Bärenreiter, Kassel u.a. 2023, 287 S., Abb., € 39,95, ISBN 978-3-7618-2642-3
Weiterlesen mit nmz+
Sie haben bereits ein Online Abo? Hier einloggen.
Testen Sie das Digital Abo drei Monate lang für nur € 4,50
oder upgraden Sie Ihr bestehendes Print-Abo für nur € 10,00.
Ihr Account wird sofort freigeschaltet!