Henriette Zehme: Zeitgenössische Musik und ihr Publikum. Eine soziologische Untersuchung im Rahmen der Dresdner Tage der zeitgenössischen Musik (ZeitMusikSchriften. Hellerauer Beiträge zur zeitgenössischen Musik Bd. 1), hrsg. von Marc Ernesti, ConBrio, Regensburg 2005, 227 S., € 14,80, ISBN 3-932581-51-2
Der typische Lachenmann-Hörer ist männlich, zumeist selbst Komponist, Musiker oder Musikwissenschaftler, hat einen Hochschulabschluss, stammt aus den alten Bundesländern, ist 43,9 Jahre alt, geht oft und zumeist allein ins Konzert, beschäftigt sich seit 17,82 Jahren mit zeitgenössischer Musik, die er für innovativ und für ein Mittel zur (Weiter-)Bildung hält und von allen Musiksparten am meisten schätzt. Diese Schablone ergibt zumindest eine neue Untersuchung über den großen Unbekannten des Musikbetriebs: das Publikum, in diesem Fall speziell das Publikum der 13. Dresdner Tage der zeitgenössischen Musik 1999.
Henriette Zehmes soziologische Studie füllt den ersten Band einer neuen Schriftenreihe des Europäischen Zentrums der Künste Hellerau (vormals Dresdner Zentrum für zeitgenössische Musik), die sich zwischen „praxisbezogener Musikwirtschaftslehre“ und „musikwissenschaftlich fundierter Diskussion“ begreift und sich neben Musik künftig auch anderen Kunstformen wie Tanz und Architektur widmen möchte. Ziel der empirischen Arbeit ist es, den Einfluss von Alter, Bildung, Milieu und Musikgeschmack auf die Rezeption zeitgenössischer Musik zu ermitteln.
Eröffnet wird das Buch mit soziologischen Theoriebildungen und einem schematischen Abriss der Musikgeschichte des 20. Jahrhunderts, der viel Seminarwissen versammelt und den Ursprung der Publikation in einer Magisterarbeit verrät. Den Hauptteil bildet die Auswertung der in zahlreichen Tabellen und Diagrammen versammelten Daten aus 1.058 Fragebögen. Da sich sämtliche Ausgangs-Hypothesen an allgemeinen Erwartungen orientieren und durch die Umfragewerte allesamt bestätigt werden, will sich dabei kein wirklicher Erkenntniswert einstellen. Was vorne hineingesteckt wird, kommt hinten wieder heraus: Das Publikum der zeitgenössischen Musik ist jünger als das der klassischen Musik, männlich dominiert, musikalisch vorgebildet und auch sonst höher gebildet, überwiegend der Hochkultur zugetan und hört im Gegensatz zur deutschen Gesamtbevölkerung (47 Prozent) kaum Volksmusik (4,3 Prozent).
Um der Bandbreite der zeitgenössischen Musik zwischen „,komplexer‘ avantgardistischer“ und „,nicht-komplexer‘ minimalistischer“ Musik Rechnung zu tragen, werden die Umfrageergebnisse von zwei Konzerten mit Musik von Helmut Lachenmann beziehungsweise der Band von Michael Nyman gesondert ausgewertet. Danach war das Nyman-Publikum jünger, bewertete zeitgenössische Musik schlechter, besuchte weniger Konzerte, war weniger selbst musikalisch aktiv, hatte andere Freizeitinteressen und war (gemessen an den verkauften Eintrittskarten) 24-mal größer als das Lachenmann-Publikum.
Die Ausdifferenzierung sämtlicher Umfrageergebnisse nach Altersgruppen, Erst- (51 Prozent), Mehrfach- (33 Prozent) und Stammbesucher (14 Prozent) der Musiktage, Anzahl der von ihnen besuchten Veranstaltungen, ihrer Herkunft aus Dresden, Sachsen, den alten (12 Prozent) und neuen Bundesländern (80 Prozent) und ihrer Zugehörigkeit zum Niveau- (31 Prozent), Selbstverwirklichungs- (56 Prozent), Integrations- (6 Prozent) und Unterhaltungsmilieu (7 Prozent) führt gemäß Gerhard Schulzes Typologie der „Erlebnisgesellschaft“ (1993) häufig zu Redundanzen, kaum aber zu neuen Einsichten. Allenfalls die Dresdner Veranstalter, vielleicht auch Organisatoren anderer Musikfestivals, könnten aus der unterschiedlichen Resonanz der Besucher auf verschiedene Informations- und Werbemaßnahmen Schlüsse für die Optimierung ihrer Presse- und Öffentlichkeitsarbeit ziehen.
Als Hypothek erweist sich die simplifizierende Gegenüberstellung von „traditionsüberwindenden“ und „traditionsgestützten“ Entwicklungen in der Neuen Musik, da der unreflektierte Traditionsbegriff zu Fehlschlüssen führt. Statistische Umfragewerte mögen belegen, dass die Rezeption zeitgenössischer Musik „in höherem Maße als traditionelle Musik musikalische Bildung (Kenntnis von Noten, Harmonielehre, Musiktheorie und Musikgeschichte)“ erfordert, die Sache selbst aber tut dies nicht, zumal die angeführte musiktheoretische Bildung bei Neuer Musik oft nicht mehr greift. Wie die meiste abendländische Kunstmusik seit dem ausgehenden 18. Jahrhundert richtet sich die Neue Musik an alle Musikinteressierten und wird umgekehrt die ihrer vermeintlichen Breitenwirkung wegen gegen die Neue Musik ausgespielte alte Musik heute von den meisten Klassik-Hörern als verständlich missverstanden. Der Unterschied zwischen Gewohnheit und Verstehen mag statisch irrelevant und schwer zu fassen sein, ästhetisch ist er entscheidend.