Schon zu Lebzeiten wurde Walter Felsenstein von der DDR verklärt, idolisiert und der staatlichen Kunstdoktrin und -propaganda einverleibt. Er gilt als Vater der Ostberliner Komischen Oper. Sein Name, sein Theater ist Legende. 1975 ist der Wiener Regisseur gestorben. Jetzt ist in der Reihe „Dresdner Schriften zur Musik“ des Tectum Verlags eine 1.372 Seiten starke Publikation erschienen, die diese Felsensteinlegende entlarvt.
Es handelt sich um die Dresdner Dissertationsschrift von Boris Kehrmann. Ihr Titel „Vom Expressionismus zum verordneten ,Realistischen Musiktheater‘“ ist Programm, denn Kehrmann geht es darum, „den Regisseur Felsenstein vom Klischee des ,Realisten‘ und vom Klischee einer Ikone des DDR-Theaters zu befreien“.
Wie Kehrmann aufzeigt, habe man zu DDR-Zeiten versucht, Walter Felsenstein, den Wiener Theatermacher, Schauspieler und Regisseur hineinzuzwängen in die DDR-Ästhetik mitsamt ihrer Phraseologie und habe ihn gewissermaßen erst erfunden, als die Komische Oper gegründet wurde. Aber es gab, wie die imposante Publikation belegt, eben einen berühmten Felsenstein vor 1947. Kehrmann stellt den gebürtigen Österreicher als Grenzgänger zwischen Ost und West dar, aber auch innerhalb des Musiktheaters. Um Felsenstein und sein Musiktheater einordnen zu können, hat Kehrmann nicht nur seine Leistung als Dramaturg und Regisseur dargestellt, sondern auch seine Kindheit, Jugend und Ausbildung, seine familiäre Herkunft, die nationalsozialistisch angehaucht ist, sein gesellschaftliches und künstlerisches Umfeld, schließlich seine politische Haltung.
Kehrmann versucht den Spagat zwischen Dokumentation und Biographie, Darstellung von Privatleben und Karriere, Theatertheorie und -praxis im zeithistorischen Kontext. Niemand hat sich je so gründlich in die Causa Felsenstein vertieft, hat sich so unbeirrt und schonungslos durch zahllose Archive und Zeitungsjahrgänge hindurchgearbeitet wie Kehrmann. Zwölf Jahre seines Privatlebens hat er für die Felsensteinforschung geopfert. Kehrmann, so hat man den Eindruck, verehrt und bewundert Felsenstein wie einen Übervater. Warum auch nicht? Nur so lässt sich wohl eine solch gigantische Arbeit bewerkstelligen. Zuweilen allerdings geht Kehrmanns biographisch-positivistisches Sammel- und Vollständigkeitsstreben mit ihm durch. Wer möchte schon wirklich wissen, dass Walter Felsenstein oft im Sommerhaus der mütterlichen Familie mit Namen Brenner in Weiten verbracht hat und dass „der große Garten … die Familie mit Pflaumen, Kirschen, Birnen, Äpfeln, Pfirsichen, Stachel und Johannesbeeren“ versorgte?
„Realistisches Musiktheater“
Weitaus interessanter sind die theatertheoretischen Ausführungen des Autors. Einer der zentralen Begriffe, der zum Mythos Felsenstein gehört ist der des „realistischen Musiktheaters“ als Gegensatz zu Brechts Begriff vom „dialektisch-epischen Theater“. Noch immer gleicht der Begriff einem Tabu, an das niemand rührt. Anders Kehrmann, der mit seiner Arbeit nachweist, dass Felsenstein sich der Staatsdoktrin des „sozialistischen Realismus“ immer verweigert habe, aber auch, dass seine Inszenierungen von einer theatralischen, rebellischen, ironischen und poetischen Kraft sind, die sich mit dem Begriff Realismus nicht decken lassen.
Kehrmann zieht akribisch Äußerungen Felsensteins ans Licht, in denen er sich von diesem Begriff distanziert, und belegt die Absurdität desselben mit der Darstellung aller wesentlichen Inszenierungen von Felsenstein, die er in den Jahrzehnten vor Gründung der Komischen Oper tätigte. Schließlich hat Felsenstein als Schauspieler, Dramaturg und Regisseur in Lübeck, Mannheim, Beuthen, Basel, Freiburg, Köln, Frankfurt am Main, Hamburg, Zürich und an verschiedenen Theatern Berlins gearbeitet, lange bevor die Komische Oper gegründet wurde.
Sie ist für Kehrmann ohnehin nichts als „ein frommer Betrug“, da Felsenstein nie vorhatte, ein reines Operettenhaus zu gründen. Der Autor belegt präzise, wie Felsenstein seine Auftraggeber, Alexander Dymschitz, Leiter der Kulturabteilung der Sowjetischen Militär-Administration, und Oberst Tjulpanow, die unbedingt ein Operettenhaus installieren wollten, geschickt an der Nase herumgeführt hat, um ein eigenes Haus für seine ganz anderen Intentionen zu erhalten.
Besonders eindrucksvoll sind Kehrmanns Belege dafür, wie Felsenstein sowohl im Dritten Reich als auch in der DDR durch taktischen Opportunismus, List und scheinbarer Anpassung sein Ziel einer Reformoper verfolgte und realisierte. Er habe es stets verstanden, „die Rhetorik der Herrschenden für seine Zwecke der Erneuerung des Theaters zu instrumentalisieren“, so Kehrmann. Es werden aber auch die alltäglichen Nöte der Komischen Oper Berlin anschaulich dargestellt, immer „in der Klemme zwischen wirtschaftlichen und politischen Realitäten des Kalten Krieges“. Man erfährt viel über Musiktheater im Kalten Krieg und über Felsensteins gescheiterte Filmkarriere. Auch die brisante Enthüllung, dass Felsenstein nahezu 60 Prozent des Personals der neugegründeten Komischen Oper aus Altnazis rekrutierte, beleuchtet ein bisher verschwiegenes Kapitel des Opernvorzeige-Instituts der DDR. Die Geschichte der Komischen Oper und die Rolle Felsensteins in der DDR muss nach diesem Buch neu geschrieben werden.
Präzise Recherche
In unvorstellbarer Fleißarbeit hat Kehrmann zahllose bisher unbekannte wie unveröffentlichte Quellen und Dokumente aus dem Berliner Document Center, aus vielen Theater- und Spezialarchiven, Bibliotheken, Tageszeitungen, Theaterzetteln, Rezensionsorganen und anderen Periodika ans Licht gezogen. Ein Glücksfall sind die bisher unbekannten Briefe Walter Felsensteins an seine bis heute totgeschwiegene erste Ehefrau Ellen, geborene Neumann. Die Briefe wurden Kehrmann von Ellen Felsensteins Sohn Peter Brenner überlassen. Diese Briefe der Jahre 1925 bis 1951, die bei Kehrmann zum ersten Mal publiziert werden, zeigen eine vielschichtigere, widersprüchlichere Person Walter Felsenstein als bisher, sein Verhältnis zum Judentum, zur Politik und zum Theater. Vor allem Christoph Felsenstein, Sohn aus Felsensteins zweiter Ehe und Sprecher der Erbengemeinschaft, dürfte über die Erstpublikation dieser Briefe alles andere als „amused“ sein, da zur Felsensteinlegende die totgeschwiegene erste jüdische Ehefrau ebenso gehört wie die Doktrin: „Einen Felsenstein vor der Komischen Oper gab es nicht.“ So lautet denn auch der vorletzte Satz der opulenten Veröffentlichung Kehrmanns. Das Ende seiner Publikation kommt abrupt. Kein Nachwort, kein Resümee. Doch es gibt einen wichtigen Anhang. In ihm ist zum ersten Mal ein vollständiges Verzeichnis der Inszenierungen und der von Felsenstein selbst gespielten Rollen verzeichnet. Was nur wenige wissen: Walter Felsenstein begann als Schauspieler.
Die Arbeit von Boris Kehrmann leistet die längst überfällige Korrektur eines verfälschten Felsensteinbildes. Zu wünschen wäre, dass Kehrmann jetzt auch noch die Geschichte der Komischen Oper und die Rolle Felsensteins in der DDR neu schreibt, denn seine Mammutarbeit endet kurz nach Gründung der Komischen Oper Berlin. Die Geschichte der Komischen Oper seit 1951 bis heute muss nach dieser Publikation dringend neu geschrieben werden.
Boris Kehrmanns Buch hat die bisherige Felsensteinforschung düpiert, denn eine solche systematische Forschung für die Zeit vor Gründung der Komischen Oper gibt es dem Autor zufolge nicht. Wer bisher glaubte, Felsenstein zu kennen, muss sich durch diese Publikation eines Besseren belehren lassen. Viele sogenannten, auch selbsternannten Felsensteinexperten dürften blass werden bei der Lektüre dieser respekteinflößenden Publikation. Zumal Kehrmann viele Autoren, auch das renommierte Berliner Felsensteinarchiv, gravierender Fehler, falscher Datierungen, ja Unterschlagungen überführt, ganz zu schweigen von ideologischen Zurechtrückungen. Kehrmanns Publikation setzt Maßstäbe und ist schon jetzt ein Standardwerk.
Boris Kehrmann: Vom Expressionismus zum verordneten „Realistischen Musiktheater“. Walter Felsenstein und die Entstehung seiner Theatertheorie und -praxis von 1901 bis 1951. Tectum, Marburg 2015, 1.372 Seiten, 2 Bde., € 79,95, ISBN 978-3-8288-3266-4