Andreas Dorschel (Hg.): Dem Ohr Voraus. Erwartung und Vorurteil in der Musik (Studien zur Wertungsforschung, Bd. 44), Universal Edition, Wien/London/New York 2004, ISBN 3-7024-2709-0
Auch wenn es im Alltag des Musikbetriebes nicht immer so wahrgenommen wird, spielt sich darstellende Kunst und die Musik im Besonderen zu einem Großteil in einer dreifachen Ausprägung der Erwartungshaltungen ab, so Andreas Dorschel in seinem einführenden Beitrag zum vorliegenden Band der Studien zur Wertungsforschung, der Beiträge einer Konferenz versammelt, die im November 2003 an der Universität für Musik und darstellende Kunst Graz veranstaltet wurde: Von Seiten des Komponisten und auch des Interpreten werden Erwartungen aufgebaut, eingelöst und durchkreuzt. Dabei ist zu beachten, dass nicht nur der Hörer gewisse Erwartungen an das Musikstück heranträgt, sondern zuweilen auch der Komponist an den Konsumenten seines Werkes. Erstarrte Erwartungen können sich zu Vorurteilen auswachsen, die eine Öffnung dem unbekannten Werk gegenüber nur schwerlich zulassen. Wenn man sich ein Vorurteil gebildet hat, wie zum Beispiel italienische Opernmusik zu klingen hat, so wird man abweichende Erfahrungen eher in die Kategorie „das ist ja keine echte italienische Oper“ einordnen, als sich einzugestehen, dass eventuell ein Wandel vonstatten gegangen ist. Erwartungen sollen natürlich auch erfüllt werden, allerdings ist das bloße Einlösen von bekannten Mustern auch für den Hörer nur bedingt akzeptabel, weil es dann schnell langweilig wird. Die Kunst besteht darin, mit den Erwartungen zu spielen und damit das Musikerlebnis spannend zu gestalten und neue Akzente zu setzen.
Mit konkreten Beispielen vertiefen die übrigen Autoren die Ergebnisse, die Dorschel vorstellt. Anselm Gerhard macht das Phänomen an Beispielen aus der textgebundenen Musik fest. So bringt er das Beispiel aus Verdis Oper „Otello“, wo der Titelheld die obligatorische Schlussarie nicht mehr singen kann, weil er vorher sterbend zusammenbricht: bis dahin ungehört und für manche damals auch unerhört. Wilhelm Seidel erörtert in seinen Ausführungen den ersten Satz von Mozarts Streichquartett KV 464, der die Hörer durch eine Aneinanderreihung von Erwartungsenttäuschungen verstört. Beethovens „plötzliches piano“ (piano subito) und der Umgang der Interpreten damit ist ein weiteres Exempel eines gestörten Erwartungsverhältnisses, wie Birgit Lodes schreibt. Hans-Joachim Hinrichsen macht das Problem anhand der Kammermusik Schuberts deutlich.
Unerwartetes kann aber auch von den Hörern gefordert oder erwartet werden, wie Karin Marsoner in ihrem Beitrag eruiert. Robert Schumann stellt in seinem Piano-Zyklus „Carnaval“ den einzelnen Stücken bestimmte Titel als Maskierungen zur Seite. Der Hörer erwartet durch die Auswahl bestimmter Figuren, dass unerwartete Passagen folgen werden. Renate Bo-zic stellt fest, dass die Hörerschaft durchaus an Neuem interessiert ist und auch Unerwartetes erwartet, dennoch will sie eine gewisse Basis, an der sie sich orientieren kann. Nicht umsonst tat und tut sich die Neue Musik nach 1945 so schwer, Anhänger zu finden. Mit den zum Teil radikalen Ansätzen eines John Cage zum Beispiel, die Tradition zu vergessen, um eine „voraussetzungslose Musik“ zu schaffen, hatten viele zu kämpfen, da ihnen die Basis von vertrauten Arrangements genommen wurde. Der Hörer wird bei dieser Art von Musik sehr stark gefordert. Die Bereitschaft, sich einem Werk so intensiv zu widmen, ist dabei nicht immer vorhanden.
Tilo Medek und Christine Whittlesey ergänzen die Beiträge durch ihre Sicht der Dinge als Komponist beziehungsweise Interpretin ohne jedoch neue Aspekte vorzubringen. Georg Franck steht mit seinen philosophischen Ausführungen über die „Dimensionalität der musikalischen Zeit“ etwas abseits der anderen Teilnehmer. Obwohl seine Betrachtungen über die Dauer der Gegenwart, die sich übrigens im Bereich von circa drei Sekunden abspielen soll, durchaus nicht uninteressant sind, wirken sie an dieser Stelle deplatziert. Der Zusammenhang von Gegenwartsdauer, musikalischer Wahrnehmung und der Erwartungshaltung drängt sich auf den ersten Blick nicht auf.
Der Sammelband gibt dennoch einen wertvollen Einblick in die musikwissenschaftliche Forschung und bleibt auch dem interessierten Laienpublikum weitgehend verständlich. Zusammenfassungen in englischer Sprache am Ende der einzelnen Beiträge machen den Band auch einer nicht deutschsprachigen Leserschaft zugänglich und die verschiedenen Blickwinkel der Autoren geben Auskunft darüber, wie facettenreich die behandelte Thematik ist.