Man muss den Titel der Arbeit genau lesen. Wer eine enzyklopädische Darstellung der wiederbelebten Blockflöte erwartet, muss enttäuscht sein. Viel aufschlussreicher aber ist, wie hier jener kurzen Zeitspanne nachgeforscht wurde, die die Wiederbelebung des „flauto“ des 17./18. Jahrhunderts einläutete. Diese spielte sich zwischen den beiden Weltkriegen hauptsächlich in Deutschland ab, und genau das reizte den Flötenspezialisten, Musiker, Pädagogen, Forscher, Wissenschaftler und Sammler Thalheimer, sich damit gründlich zu beschäftigen. Aus seinen diversen Sichtweisen und Erfahrungen hat er dafür eine Fülle an Informationen zusammengetragen, die die durch die Jahrhunderte veränderten Baumerkmale beschreiben und kommentieren, was sich für Klang und Spiel folgern lässt. Daraus entsteht eine weitläufige Doktorarbeit (in Tübingen angenommen), für die er undenklich viele Quellen ausgewertet, zitiert, Zeitzeugen befragt und mit reichlich Fußnoten belegt hat.
Es ist erstaunlich, wie fast zeitgleich die durchaus verschiedenen Interessen und Interessenten zusammenfinden, zusammenwirken und ein Comeback des Anderthalbjahrhunderte dem Dornröschenschlaf verfallenen Instrumentes auslösen, ja durch Nach- und Neubau eine Blockflötenbewegung in Gang setzen, die Thalheimer in allen Hard- und Software-Facetten nachvollzieht: Sektiererisch musiziert eine Bogenhausener Künstlerkapelle in München auf ererbten alten Instrumenten und weckt Aufmerksamkeit, sucht die Orgelbewegung bei der Restaurierung einer „Praetorius-Orgel“ das „Vorbild für das entsprechende Orgelregister“, baut Arnold Dolmetsch, Fan Alter Musik und historischer Instrumente, eine „treble recorder“, die er erfolgreich bei seinem Haslemere Festival einsetzt. Konträr der Kreis um Peter Harlan in den Spuren der Jugendbewegung, um „an Hand ... der alten Instrumente wieder zu einer wahrhaft volkstümlichen Musik zu finden, welche durch die Entwicklung der Musik und der Instrumente zum Virtuosentum im 19. Jahrhundert verschüttet wurde ... Für das gegenwärtige Musizieren der Jugend und der Laien sei am geeignetsten die Blockflöte.“
Wie nun die Tüftler die wenigen historischen Vorlagen nachmessen und sich im Meinungsstreit um Stimmungen, Mensuren, Bohrungen, Windkanal, Grifflöchern, Klappen, Klangvorstellungen, Materialarten zwischen historisierendem und neu zu entwickelndem Bau üben und sich schließlich um die Zweckmäßigkeit deutscher und barocker (englischer) Griffweise auseinandersetzen – das alles liest sich nicht nur für Fanatiker des Instrumentes höchst spannend.
Unvorstellbar, wie Dutzende von Blockflöten-Fabriken und -händlern vor allem im Vogtland aus dem Boden sprießen, belegt durch minutiöse Firmenporträts, deren Produktion, ihre Signaturen, dazu ausgewählte Instrumente in markanten Detailansichten, und wie mit den spontan aktiv reagierenden Musikerziehern eine Blockflötenbewegung in Deutschland eingeläutet wurde! Doch mit dem Ende des Zweiten Weltkrieges war auch schon die Hochzeit dieses Booms vorbei. Davon überleben, so der kurze Ausblick auf die Zeit nach 1945, einige wenige mit zunehmend verbessertem Instrumentarium, Hand in Hand gehend mit weiterentwickelter Spieltechnik, zügiger Repertoireerschließung alter Originalkompositionen und der Kreation Blockflöten-typischer Werke zeitgenössischer Musik. Bemerkenswert dabei sind die wachsenden Wechselbeziehungen zwischen Blockflötenexperten innerhalb Europas einschließlich Japan.
Während zwei Drittel dieser Monographie sich mit der Hardware des Instrumentes beschäftigt, widmet sich das weitere Drittel der „Software“, den Belangen des klingenden Einsatzes: Dabei ist verständlich, dass sich im Berichtszeitraum 1920 bis 1945 dafür erst allmählich kritisches Selbstverständnis einstellte. Differenziert behandelt sind die wichtigsten Problembereiche der Spielpraxis: Suche nach idealem Flötenklang, zweckmäßiger Grifftechnik und Intonation, Dynamik, Vibrato, Atemtechnik, Artikulationsausführung, Stimmung der Instrumente, Besetzung im Ensemblespiel und Suche nach geeigneter Spielliteratur. Ins Bewusstsein rücken didaktische und methodische Fragen und führen bei den „Blockflöten-Pionieren“ der dreißiger Jahre – dafür stehen Namen wie Mönkemeyer, Scheck, Schoch, Giesbert, Karl Gofferje und Manfred Ruetz mit ihren ersten Schulungsmaterialien und Grifftabellen – zu heftigem Meinungsaustausch. Unterstützende Fortbildung verordnete die damalige Reichsmusikkammer, die der Blockflöte als geeignetes Instrument für die Jugendarbeit bevorzugte Aufmerksamkeit schenkte.
Thalheimer sortiert all diese Multiplikatoren nach den unterschiedlichen Interessensphären: Blockflöte als Volks-, Laien-, Kinder- und Anfangsinstrument, als Ensemble- und chorisches Instrumentarium, und schließlich, höchst anspruchsvoll, als eigenständiges und gleichrangiges Blasinstrument zur originalen Interpretation alter, bis 1750 entstandener wie neu in der Zeitspanne 1930 bis 1945 komponierter Musik. Eine eigene Kategorie sind neu geschaffene Liedsätze für eine oder mehrere Blockflöten, im Geiste der Jugend- und Volksmusik geschrieben von Komponisten wie Jöde, Hensel, Karl Marx, Konrad Lechner, Walter Rein, Wolfgang Fortner und Helmut Bornefeld – und neue Spielmusik für meist ein bis drei Instrumente in zunehmend üblicher f-c-Stimmung, stilistisch traditionell verankert mit deutlich pädagogischer Tendenz, wofür sich beispielsweise Cesar Bresgen, Armin Knab, Walter Roehr und Karl Marx engagiert haben.
„Die Keimzellen Neuer Blockflötenmusik, aus welchen ohne Grenzen die Neue Kammermusik mit Blockflöten hervorging“, ist Thalheimers besonderes Anliegen, doch deren vollständige Erfassung wenigstens aus den Jahren 1930 bis 1945 bleibt als Desideratum, weshalb er sich auf eine Auswahl zurückzieht, „einige Stücke mit ungewöhnlichen oder innovativen Aspekten“ näher zu betrachten. Neun Komponisten würdigt er besonders, weil sie sich mit diesem neuen Instrumentarium in allen Spiel- und Notations-Nuancen befasst und ganz gezielt originales und originelles Repertoire geschaffen haben: Bornefeld, Paul Hindemith, Fortner, Reinhard Schwarz-Schilling, Karl Marx, Konrad Lechner, Harald Genzmer, Johann Nepomuk David, Gunild Keetmann und Carl Orff. Dazu zu zählen mit ihren speziellen Kompositionen für die noch junge Blockflöte sind vor allem auch Alfred von Beckerath, Hans Georg Burghardt, Paul Höffer, Armin Knab, Heinrich Kaspar Schmid, Heinrich Spitta.
Thalheimer bemängelt mit Recht, dass Erschließung originaler Blockflötenmusik aus dem 17./18. Jahrhundert und früher wesentlich langsamer voranging und die mehr oder weniger bearbeiteten Notenausgaben noch lange nicht wachsenden kritischen Ansprüchen entsprachen. Andererseits wären für deren Wiedergabe auch nicht alle nachgebauten Instrumente wirklich tauglich gewesen. Sein Blick richtete sich zunächst auf das original mit Blockflöte besetzte reiche Schaffen des Dreigestirns J.S. Bach, Händel und Telemann, dann aber auch auf durchaus „wertvolle Literatur“ von J.Chr. Faber, Joh. Fischer, Mattheson, Fux, Dieupart, Schickhardt, Pepusch, Paisible, Bononcini, Prowo, Quantz, Graupner, Scarlatti, Fasch und anderen, von denen im ersten Eifer einige Werke bereits in der kurzen Zeitspanne 1927 bis 1941 bei den Verlagen Nagel, Bärenreiter, Rieter-Biedermann (Peters), Vieweg, Schott und Moeck aufgelegt wurden.
Die vorzügliche Ausstattung mit Illustrationen, Tabellen, Repertoire- und Literatur-Verzeichnis und Register erschließen eine Material-Fülle und öffnen damit zugleich den einen oder anderen ungewohnten Blick in inzwischen historisch gewordene Zusammenhänge und Abhängigkeiten. Das erhebt Thalheimers „Blockflöte“ zum Standard-Werk, das dem aufgeschlossenen Blockflötenspieler sein Instrument vertrauter, umgänglicher und verständlicher macht.