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Gelassene Heldenverehrung

Untertitel
Neuerscheinungen zum Thema Ludwig van Beethoven bei Bärenreiter und Henle
Publikationsdatum
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Sven Hiemke (Hrsg.): Beethoven-Handbuch. Bärenreiter/Metzler, Kassel/Stuttgart 2009, gebunden, 628 S., € 76,-, ISBN 978-3-7618-2020-9
Lewis Lockwood: Beethoven. Seine Musik. Sein Leben. Bärenreiter/Metzler, Kassel/Stuttgart 2009, gebunden, 456 S., € 39,95 ISBN 978-3-4760-2231-8
Beethoven aus der Sicht seiner Zeitgenossen, hrsg. von Klaus Martin Kopitz und Rainer Cadenbach. Henle, München 2009, 2 Bände im Schuber, Leinen, 1187 S., € 279,- ISBN 978-3-87328-120-2

Wollte man eine polemische Typologie der Beethovenforschung entwerfen, so kämen mindestens die folgenden Gattungen zum Vorschein:

1. Der Heldenverehrer: Ergriffen vom Schicksal des Tonsetzers, der seiner Ertaubung trotzend dem Schicksal in den gierigen Rachen greift und ein weltumspannendes, die Menschheit durch die Kraft der Musik erneuerndes Œuvre schafft, vermag es der Heldenverehrer, seine Leser an der Größe des Komponisten empathisch teilhaben zu lassen. Die biografischen Stationen von Bonn über Heiligenstadt bis Wien spiegeln sich in seiner Darstellung unmittelbar in den Werken wider. Eine vom Aussterben bedrohte Spezies.

2. Der Erbsenzähler: Bis auf die Zähne mit den unbestechlichen Werkzeugen der Takt-für-Takt-Analyse und der Philologie bewaffnet, wird jedes Werk bis in die letzten Winkel der Phrasierungsbögen und Skizzenbücher ausgeleuchtet. Keine subkutane Motivverwandtschaft bleibt unentdeckt, jeden Ton kann der Erbsenzähler begründen, jeden Tintenfleck datieren. Aus den Details, so hofft er, wird sich schon irgendwann wieder das große Ganze zusammenfügen lassen.

3. Der Problembewusste: Mit Carl Dahlhaus als Gewährsmann werden Beethovens Werke als Lösungen von Problemen behandelt, die es ohne Beethoven nicht gäbe. Dass dabei ganze Werkgruppen, die nicht dem Absolutheitsanspruch von Symphonie, Streichquartett oder Klaviersonate entsprechen, unter den Tisch fallen, nimmt er als der Wahrheitsfindung dienenden Kollateralschaden in Kauf.

4. Der postmoderne Nestbeschmutzer: Inspiriert von amerikanischen Gender-Studien und kanonkritischen Pamphleten, kratzt dieser sich am glattpolierten Beethovenbild die Finger wund und bringt im Fundament des Sockels, auf dem Beethoven spätestens seit Mitte des 19. Jahrhunderts steht, kleine ideologiekritische Sprengsätze an. Jeder Haarriss wird als Paradigmenwechsel gefeiert, jeder kleine Brösel nimmt sich unter dem Mikroskop riesenhaft aus.

Da braucht es schon eine ordentliche Portion Gelassenheit und Pragmatismus, um auf ein paar Seiten darzulegen, wo wir am Beginn des 21. Jahrhunderts in Sachen Beethoven eigentlich stehen. Martin Geck ist da der richtige Mann: Im einleitenden Kapitel des von Sven Hiemke bei Bärenreiter/Metzler herausgegebenen Beethoven Handbuches reißt er in geistreicher, sinnvolle Akzente setzender Manier entscheidende Themen des Beethoven-Bildes auf und nutzt diese dankbare, nicht an das Abarbeiten einer bestimmten Werkgruppe gebundene Möglichkeit der Synthese souverän.

Bei den folgenden gattungsbezogenen Kapiteln würde man sich an der einen oder anderen Stelle etwas von Gecks unkonventionellem Zugriff wünschen, den er hier dann auch den Messen Beethovens angedeihen lässt. So bleibt manches Mal das Gefühl, weder über die einzelnen Werke ausreichend informiert worden zu sein, noch einen wirklich neuen Blick auf eine ganze Werkgruppe bekommen zu haben. Dennoch dürfte es kaum ein anderes Buch geben, das einen so kompakten und fundierten Überblick über Beethovens gesamtes Schaffen bietet. Dazu trägt auch die erfreuliche Tatsache bei, dass mit eigenen Kapiteln auch einmal die Klaviermusik jenseits der Sonaten oder die Kammermusik mit Bläsern ausführliche Würdigung erfahren. Überaus lesenswert ist außerdem Hans-Joachim Hinrichsens Darstellung der Rezeptionsgeschichte, die den wieder vorbildlich gegliederten und gestalteten Band sinnvoll abrundet.
Eine naheliegende Ergänzung legen die Verlage Bärenreiter und Metzler mit Lewis Lockwoods 2003 in englischer Sprache erschienener Beethoven-Monografie vor. Naheliegend, weil kaum eine Gesamtdarstellung in den letzten Jahren so uneingeschränkte Zustimmung erhalten hat wie das Buch des amerikanischen Musikologen.

Auch in der – ebenfalls von Sven Hiemke besorgten – Übersetzung beeindruckt die Klarheit, mit der Lockwood das Material sortiert, biografische Stationen und entscheidende Wegmarken im Komponieren übereinanderblendet. Lockwood ist also garantiert keiner der oben erwähnten Spezies zuzuordnen, wirklich mitreißen lässt er sich von der Gestalt Beethoven freilich nicht – ein Gefühl, das sich zeitweise auch auf den Leser überträgt, zu sehr breitet Lockwood sein Wissen aus der Distanz des wissenschaftlichen Kenners aus. Den Furor, mit dem Maynard Solomon einst seine Thesen über Beethovens Persönlichkeit in den Raum warf und der auch sein Mozart-Buch (ebenfalls bei Bärenreiter/Metzler übersetzt) belebt, sucht man hier vergebens.

Hier schafft eine großartige Publikation des Henle Verlags Abhilfe. Mitarbeiter der Beethoven-Forschungsstelle an der Berliner Universität der Künste (Initiator war der 2008 verstorbene Rainer Cadenbach) haben zeitgenössische Erinnerungen an Beethoven gesammelt und vorbildlich kommentiert. Neben vielen lange bekannten, nun aber erstmals in zuverlässigen Textfassungen vorliegenden Dokumenten haben die Forscher auch bisher unveröffentlichtes Material aufgespürt. So ist in den beiden weit über das wissenschaftliche Interesse hinaus lesenswerten Bänden die Faszination, aber auch die Verstörung, die von der Person und der Musik Beethovens zu Lebzeiten ausging, ganz unmittelbar spürbar. Zu dem Zeitpunkt also, da die ersten Heldenverehrer schon ihre Arbeit aufgenommen hatten, wie etwa der folgende Tagebucheintrag Fanny Giannattasio del Rios von 1817 zeigt: „Heute eben war ich wieder entzückt über die Werke seines kräftigen schaffenden Geistes, seine Musik durchdringt mein Innerstes und macht ein enthusiastisches Gefühl für den Mann in mir rege, welches nur dessen höheren Werth als Mensch zur Basis hat und dadurch noch gediegener ist.“

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