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Halbe Sachen gehen bei Wagner nicht

Untertitel
Christian Thielemann zum 200. Geburtstag des Bayreuther Meisters
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„Durch Wagner ist mein musikalisches Denken und Empfinden geworden, was es heute ist“, sagt Christian Thielemann und fügt mit Blick auf seine Jugend hinzu: „Mit Wagner hat mich regelrecht der Schlag getroffen, und ich wusste: Das ist es!“ Sein jetzt zum Wagnerjahr erschienener Band, konzipiert aus Gesprächen mit der Musikwissenschaftlerin Christine Lemke-Matwey, ist denn auch weniger eine nüchterne Analyse zum Werk des Bayreuther Meisters, sondern ein impulsives und dadurch höchst lebendiges, Zustimmung und Widerspruch gleichermaßen herausforderndes Buch.

Thielemann beginnt mit einem kurzen biographischen Abriss, in dem er seine frühe Liebe zu Wagner beschreibt, dann die ersten Jahre als Korrepetitor, als Assistent Herbert von Karajans, als blutjunger Generalmusikdirektor in Nürnberg bis hin zum Beginn in Bayreuth im Jahre 2000. Der zweite und gewichtigste Abschnitt, überschrieben mit „Wagners Kosmos“, ist eine wahre Fundgrube sowohl für Wagnerkenner und -liebhaber als auch für solche, die dem Werk skeptisch gegenüberstehen, aber gleichwohl mehr zur musikalischen Praxis erfahren wollen. Die alles durchziehenden Grundfragen sind: Was bedeutet uns heute Wagners Werk? Wie sollte es heute inszeniert und musiziert werden?

Wagner, so Thielemann, stelle letztlich jeden Musiker, der sich auf Wagner einlässt, vor immense Schwierigkeiten, „technisch, handwerklich, musikalisch, mental, emotional, physisch und intellektuell“. Jede Form von Selbstzufriedenheit und Übermut sei „fehl am Platze“. Halbe Sachen gehen nicht, alles muss stimmen: die restlose Hingabe, die Sensibilität dafür, dass über allem die Musik steht, schließlich auch äußere Voraussetzungen im Theater und Orchestergraben.

Verbrechergalerie

Der Wagnerfamilie fühlt sich Thielemann eng verbunden. Im Jahr 2000 debütierte er in Bayreuth, und so kommt sein Für und Wider zum Festspielhaus aus langjähriger Erfahrung. Keineswegs alle Opern seien wegen dessen „Mischklangästhetik“ Bayreuth-geeignet, eigentlich nur „Der Ring“ und „Parsifal“, bedingt „Tannhäuser“ und „Tristan“, nur in geringem Maße wegen des „gedeckelten“ Orchestergrabens „Die Meistersinger“ und die anderen Opern. Mit Genuss liest man Thielemanns Schau der „Verbrechergalerie“, sprich aller in Bayreuth aufgetretenen Pultgrößen, im unterirdischen Gang vom Bühnen- zum Festspielhaus, und mehr noch interessiert, wie der angeblich so konservative Thielemann die Zusammenarbeit etwa mit Ruth Berhaus (1988 in Hamburg) oder den inszenierenden Heiner Müller (1994 in Bayreuth) würdigt. Zugleich zeigt er sich ärgerlich: „Gusseiserne Ästhetiken mit riesigen theoretischen Überbauten, komplizierteste Bühnenbilder und viel mediales Trara bannen alle Energie. Weil sich kaum noch jemand auf eine kluge Personenregie versteht.“

Wagner und Hitler

Der politisierende Wagner habe ihn schon früh „irritiert“. Die zahllosen Versuche, Wagner als Vorläufer oder gar Ziehvater Hitlers zu sehen, gehen ihm allerdings „zu weit“. Hier ist Thielemann ganz eindeutig: „Ein Musiker wird Richard Wagner immer nach seiner Musik beurteilen. Wagner war ein genialer Kalkulator und Parfümeur – ein politischer Demagoge war er nicht.“

Wagner als Kern

Der dritte Teil des Buches ist gewissermaßen ein Opernführer. In gleichbleibendem Schema analysiert Thie-lemann alle Opern, beginnend mit den weniger bekannten Jugendwerken („Die Feen“, „Das Liebesverbot“) bis hin zum „Ring“ und zum „Parsifal“. Jede Oper zeigt er in ihrer Einmaligkeit innerhalb des Gesamtwerkes, nennt dabei seine Favoriten (Tristan – „die Oper aller Opern“) und verweist auf frühere Aufnahmen etwa von Furt­wängler, Knappertsbusch, Solti und Karajan, die für ihn noch immer Referenzcharakter besitzen. Auch hier spürt der Leser den Dirigenten: „Im ,Ring‘ fühlt sich der Dirigent wie ein Akku, der permanent wieder aufgeladen wird. Das machen die gegensätzlichen Welten, durch die man sich 15 Stunden lang bewegt.“ Wehe dem Musiker, der nicht richtig mit seinen Ressourcen disponiert; ständig lauere die Gefahr, dass die Kräfte schwinden, dass im wahrsten Sinne des Wortes „die Puste“ ausgeht.

Schmerzlich vermisst Thielemann das „gute alte Ensembletheater“, für das nicht zuletzt auch Bayreuth mit seiner über Jahre hindurch zusammengewachsenen Mannschaft stehe. Alles überall zu machen, das sei nicht sein Ding: „Ich bin kein Musiker, der sein Glück in der Vielseitigkeit sucht, von der Alten Musik bis Stockhausen. Ich muss von einem Kern ausgehen.“ Und dieser Kern ist für ihn Wagner: „Je genauer ich seine Musikdramen kenne, desto neugieriger, mutiger und sensibler werde ich. Insofern bin ich mir ziemlich sicher, dass Wagner mich für den Rest meines musikalischen Lebens begleiten wird.“ Am 1. April wurde Thielemann (erst!) 54 Jahre alt.

Christian Thielemann: Mein Leben mit Wagner. Unter Mitwirkung von Christine Lemke-Matwey. Verlag C. H. Beck, München 2012; 320 S., € 19,95, ISBN  978-3-406-63446-8

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