Dmitri Schostakowitsch. Briefe an Iwan Sollertinski, hrsg. v. Dmitri Sollertinski und Ljudmila Kownazkaja, aus dem Russischen v. Ursula Keller, Wolke Verlag, Hofheim am Taunus 2021, 251 S., € 36,00, ISBN 978-3-95593-097-4 +++ Letters of Dimitri Dimitrijevich Schostakovich to Boris Tishchenko, Compozitor Publishing House, St. Petersburg 2001, 56 S., ISBN 978-5-7379-0124-0
Wer möchte nicht wissen, welche Menschen hinter den großen Künstlern stecken, die sich in Zeiten einer Schreckensherrschaft hinter einer offiziellen Fassade verstecken müssen, um überhaupt noch etwas bewirken oder auch nur überleben zu können? Viele dieser Rätsel bleiben unaufgedeckt. Was war Prokofieff für ein Mensch? Oder Chatschaturjan? So kam es im Fall Schostakowitsch so wunderbar gelegen, als postum die reißerische vorgebliche Autobiographie „Zeugenaussage“ von Solomon Volkow erschien. Da machte es auch nichts aus, dass Volkow vor allem ein eloquenter Schwindler war. Die westliche Welt bekam genau das Bild serviert, nach welchem sie offenbar lechzte, und schnell ergab sich daraus eine doppelte Buchführung der Geschichtsschreibung, die aus Sicht der Historiker in ihrer Allgemeinverbindlichkeit als skandalös zu bezeichnen ist.
Authentisches Material statt gut erfundener Lügen
Wer war nun Schostakowitsch: der auch für billigen Gossip und beschämende Häme sich hergebende Plauderer oder der Mann der offiziellen Verlautbarungen, dessen wahre Regungen und Ansichten unsichtbar blieben? Sicher ist, dass Schostakowitsch die von Volkow ‚enthüllten‘ Indiskretionen niemals begangen hätte, denn auch in der Breschnjew-Zeit wären die Konsequenzen für seine Familie noch bitter gewesen. Also – gut erfundene Lügen in scheinbar glaubhafter Schnittmenge mit Zutreffendem, darauf baut unser Schostakowitsch-Bild, wie es sich in Feuilletontexten ebenso wie in der Musikwissenschaft mittlerweile verfestigt hat.
Beim Wolke-Verlag ist glücklicherweise ein Buch erschienen, das uns mit authentischem Material jenseits der offiziellen Fassade versorgt, wenn auch nur bis ins Jahr 1944. Dann nämlich verstarb der Empfänger der hier veröffentlichten Briefe, der brillante Musikwissenschaftler und Schriftsteller Iwan Sollertinski.
Lebendigkeit und intellektuelle Brillanz
Erhalten sind nur die Briefe Schostakowitschs an den engen Freund, da Schostakowitsch mit verständlicher Vorsicht alle an ihn gerichteten Briefe, die Belastendes enthalten konnten, entsorgte. Hier zeigt sich der junge Schostakowitsch in seiner ganzen Lebendigkeit und intellektuellen Brillanz und spricht vieles mit entwaffnender Offenheit aus – bis zur offiziellen Verurteilung seiner Oper „Lady Macbeth“ mit durchaus optimistischem Furor, danach gedämpfter, verhaltener. Es ist eine unbedingt lesenswerte Lektüre für alle an diesem Jahrhundertkomponisten Interessierten, und sie ist vorbildlich ediert: die 173 Briefe (der letzte an die Witwe) in erstklassiges Deutsch übersetzt, mit einem ebenso wertvollen und umfangreichen Kommentarteil auf sorgfältigste Weise ergänzt, und mit einem Personenverzeichnis versehen. Ob man es einfach liest oder damit recherchiert, man ist exzellent bedient, und es wird niemanden geben, der nicht noch vieles Neues daraus lernen wird. Auch erfährt man vielsagende Differenzen zwischen offiziellen Texten und des Autors wahren Ansichten, beispielsweise anhand der sehr positiven Besprechung eines Konzerts mit polnischer Musik, von dem Schostakowitsch seinem Freund gesteht, es habe ihm nicht gefallen. Dieses Buch ist ein Muss für alle, die das wenige Wahre wissen wollen, das hier zur Verfügung steht.
Ergänzend sei – in sehr dürftiges Englisch übersetzt – die vom Empfänger kommentierte Edition der Briefe Schostakowitschs an seinen wichtigsten späten Schüler Boris Tishchenko empfohlen, die sich über die Jahre 1963 bis 1975 erstreckt. Daraus geht nicht viel Persönliches hervor, aber auch hier ist der informelle Gehalt von großem Wert.