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Olivia Vieweg: Die Stadt der Schattenschläfer und die Melodie der Albträume, Ueberreuter, Berlin 2024

Olivia Vieweg: Die Stadt der Schattenschläfer und die Melodie der Albträume, Ueberreuter, Berlin 2024
 

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„Humtata und Tschingderassabum“

Untertitel
Olivia Viewegs Jugendroman handelt von besonderen und bedrohlichen Kräften der Blasmusik
Vorspann / Teaser

Olivia Vieweg: Die Stadt der Schattenschläfer und die Melodie der Albträume, Ueberreuter, Berlin 2024, 352 S., € 16,00, Abb., ISBN 978-3-7641-5272-7

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Sehr viel größer könnte die Zumutung kaum sein: Den ganzen Tag wird die 13-jährige pubertierende Elly mit Blasmusik („Humtata und Tschingderassabum“) zugedröhnt. Denn im vermeintlich idyllischen Quedlinburg („Es gibt Städte, in denen einfach alles so bleibt, wie es immer war.“) wird Blasmusik wie eine Religion zelebriert, fast ein bisschen fanatisch. Da hilft auch das fast beschönigende „Musik für den Frieden“ im Stadtwappen nichts. Andere Musik gibt es hier nicht! Deswegen plant Elly, deren Herz für Heavy-Metal-Musik schlägt, von zu Hause abzuhauen.

Für kulturpolitisch interessierte Menschen ist das Buch ein Traum – quasi musikalische Science Fiction: Absolut jedes Kind in der Stadt spielt ein Instrument, also ein Blasinstrument. Der Musikunterricht ist das wichtigste Unterrichtsfach in der Schule – JeKi im gelungenen Endstadium. Und nun steht in der Stadt ein großes Musikfestival vor der Tür. Man übt, probt, schließt sich zu Ensembles zusammen und will alle anderen mit der eigenen Performance ausstechen. Sogar aus weit entfernten Gegenden kommen Blasmusiker, um mitzumachen.

Elly weiß sich diesem Hype für lange Zeit zu entziehen. Sie ist eine starke Persönlichkeit und stellt sich (ganz allein!) mutig gegen den Trend. Auf die Frage, welches Instrument sie denn in diesem Jahr während des Festivals spielen werde, antwortet sie: „Ich spiele in der ersten Reihe den Mittelfinger!“ Daraufhin „klappt sie ihren Mittelfinger aus und pustet wie in eine Trompete“.

Dieses Verhalten wird allgemein nicht geschätzt. Für Elly ist diese Form von Protest notwendiger Teil ihres Weges durch die Pubertät aus der Pubertät heraus hin zu einer eigenständigen, mutigen und kreativen Persönlichkeit. Am Ende des Buches nimmt sie (nicht den Mittelfinger spielend) mit vier neu gewonnenen Freunden am großen Schlusskonzert des Musikfestivals teil.

„Alle trugen strahlende Kostüme und hatten die Haare frisch frisiert. Plötzlich ging ein Raunen durch die Menge. Ganz hinten näherte sich etwas. In pechschwarzen Dirndln, tiefschwarzen Lederhosen und finsteren Hemden marschierten fünf Musikerinnen und Musiker heran. Ihre Haare warn zottelig und als Wappen trugen sie einen gemalten Totenschädel, aus dem eine Musiknote aufstieg. Alle Augen waren auf sie gerichtet. […] Elly drehte sich zu den wartenden Musikern, die sie mit Blicken durchbohrten. ,Wir sind Blasmusik des Todes! Und wir gehören jetzt zu eurem Freak-Verein dazu!‘“

Ein bisschen Pubertät und ein wenig Protest wären aber zu wenig für ein gutes Buch. Wie kommt es zu diesem Blasmusikwahn? Was sieht man in dieser scheinbar sehr einladenden Stadt nicht auf den ersten Blick? Warum ist der Fahrstuhl im Krankenhaus seit zwanzig Jahren kaputt – auch wenn er schon davor nur abwärts in den Versorgungskeller fuhr? Welche Rolle spielt der Musiklehrer, der (nicht nur musikalisch) so anders ist als alle anderen Menschen in Quedlinburg und der mit seinem Schlüssel nachts den Lack an Autos zerkratzt?

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Olivia Vieweg: Die Stadt der Schattenschläfer und die Melodie der Albträume, Ueberreuter, Berlin 2024

Olivia Vieweg: Die Stadt der Schattenschläfer und die Melodie der Albträume, Ueberreuter, Berlin 2024
 

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Fantastische Gegenwelt

Aus einem alten „Brunnen am Waldrand griff eine kleine weiße Hand nach dem Rand. Mit zittrigen Armen zog sich Schatten hoch und kletterte aus dem Brunnen heraus. […] Im Brunnen blickte ihr eine Kreatur ohne Mund entgegen. Schattens kleine zarte Stimme war ganz laut: ‚Lass mich in Ruhe, du verdammtes Monster!!‘ […] Die Kreatur hatte plötzlich einen Mund bekommen und schrie: ‚Du wagst es, dich mit dem Tonholer anzulegen?‘ Schatten wusste, dass sie diese zarte, kleine Stimme kannte. Es war ihre eigene Stimme gewesen! Der Tonholer hatte ihre Stimme gestohlen.“

Unter der Erde Quedlinburgs gibt es eine Art Gegenwelt. Sonderbare schwache Gestalten und der Tod sind dort zuhause. Dort herrscht eine depressive und morbide Atmosphäre. Was sind das für Wesen? Was macht Musiklehrer Hellborn dort unten? Was für ein seltsames Notenheft hat er Elly zurückgelassen, als er in den Untergrund ging? Scheinbar war es – bis auf den Schriftzug „Blasmusik für Fortgeschrittene“ – leer. Doch plötzlich erscheinen dort wie von Geisterhand Noten.

Ein Buch für unverstandene Jugendliche auf dem Weg aus der Pubertät. Aber auch ein Buch voller Liebe und Verständnis, das die Urkraft der Musik erlebbar macht. Ein Buch auch für Erwachsene. Das empfohlene Lesealter „11 Jahre“ sollte nicht unterschritten werden!

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