Müssen Künstler eitel sein? Dürfen sie das überhaupt? Wenn ja, wie sehr? Die Lektüre von Alfred Kirchners „Der Mann von Pölarölara“ regt solche Fragen durchaus an. Eine Antwort bleibt aus.
Wer kennt einen Regisseur, der frei von Eitelkeit ist? Ich kenne nur einen. Und bin mir auch bei dem nicht ganz sicher. Alfred Kirchner ist es jedenfalls nicht. Dessen Buch „Der Mann von Pölarölara“ ist mit Eitelkeiten geradezu gewürzt und garniert. Was freilich kein Vorwurf sein muss, denn nur so schaut die Leserschaft hinter so manche Kulissen und erfährt Einblicke in eine überaus menschliche Künstlerbiografie. Einblicke, die der Allgemeinheit sonst womöglich verborgen geblieben wären. Raffiniert sind „Autobiografische Splitter“, so der Untertitel zu Kirchners Selbstdarstellung „Der Mann von Pölarölara“, mit Petitessen und Zeitgeschichte verknüpft. Unter Bettdecken geschaut wird dabei freilich nicht, auch wenn auffällig oft die Nähe zu uraltem Gewerbe erwähnt ist. Selbst einstiger Zoff, wie im Theateralltag offenbar unverzichtbar, wird zumeist mit einem Zwinkern und dem Mantel des Versöhnens dargestellt.
Alfred Kirchner hat keine Biografie geschrieben, sondern ausdrücklich nur „Splitter“ verfasst. Die sind nicht kalendarisch sortiert, sondern liegen scheinbar hübsch durcheinander, ergeben aber Stück für Stück und Seite für Seite Details eines schillernden Mosaiks, das naturgemäß Fragment bleiben muss. Wie prägend die Kindheitserfahrungen des 1937 in Göppingen geborenen Regisseurs geworden sind, fügt sich erst allmählich zum Bild. Aus den Erfahrungen von Bombern und Hunger formt sich ein starker Charakter, der selbstbewusst gegen Obrigkeitsdenken aufbegehrt und dies später auch in seinen Inszenierungen deutlich erkennbar darstellen will.
In diesem Buch steckt kein zeitlicher Faden, da wird aus manch einer Begegnung wieder an Kriegs- und Nachkriegszeiten erinnert, da wecken ausgewählte Produktionen das Gedenken an einstige Weggefährten und/oder Kontrahenten. Mal vergnüglich, mal informativ, hier und da auch ein klein wenig zu selbstgefällig verplaudert, erzählt Alfred von Alfred, dem Mann von Pölarölara. Dieses Pseudonym, oft nur Pöla genannt, legte er sich in frühen Kindesjahren zwecks Selbstbehauptung gegenüber den älteren Geschwistern zu. Und pflegte es ein Leben lang. Was aus der jüngeren Schwester geworden ist, die nach dem Bombardement „nie mehr ein Wort in ihrem Leben gesprochen“ haben soll, wird nicht gesagt.
Dass dieser Alfred als Schauspielstudent am Max-Reinhard-Seminar nach einem Konzert mit Louis Armstrong und Ella Fitzgerald mit der „Lady of Jazz“ noch „Sensation – auf einen Drink“ gegangen ist, klingt fabelhaft. Aber man hätte auch hier gern erfahren, wie es dazu kam und was daraus wurde.
Mal sind die Splitter durchaus vergnüglich, mal immerhin informativ zu lesen; hier und da wirken sie aber auch mächtig narzisstisch. Wir lesen von der Abendgage für eine leibhaftige Kuh in Höhe von 400 D-Mark, von der Anreise eines üblen NATO-Generalsekretärs mit sechs schwarzen Automobilen, erfahren Hintergründiges vom Grünen Hügel und Intrigantes aus dem Intrigantenstadl Wien. Dazwischengestreut wird Ikonografisches aus Moskau, wodkagetränkt, zudem wird der Haltung eines selbsternannten Achtundsechzigers ein eigenhändiges Denkmal gesetzt, das dennoch nicht unglaubwürdig erscheint.
Sehr menschlich ist Liebe zur Tochter Emilie deutlich gemacht, deren Mutter das Regietalent beim alten Bernhard Minetti kennengelernt hat. Ob Claudio Abbado, Nikolaus Harnoncourt oder James Levine, ob Curt Bois, Claus Peymann oder Peter Turrini – Alfred „Pöla“ Kirchner muss sich nicht im Schatten großer Namen schmücken, der belesene Regisseur hat sich längst selbst einen solchen erworben. Mit Uraufführungen von Thomas Bernhard, Heiner Müller und Bernd Alois Zimmermann, mit Inszenierungen von Klassikern und Zeitgenossen. Der heute 83-jährige Theatermann, der seinen vier Zentimeter kleinen Pölarölara-Mann von der einstigen Spielzeugeisenbahn bis heute in sich zu tragen scheint, er hat eine Menge zu erzählen.
Die schäbige Abwicklung des namhaften Schillertheaters durch die kleingeistige Berliner Kulturpolitik streift er leider nur mit einem (verschämten?) Seitenblick. Und auch sonst bleiben die autobiografischen „Splitter“ auffallend harmlos, für Anekdoten aus der Theaterwelt beinahe zu blass. Erschreckend sind hingegen die vielen Setzfehler im Text und das für eine Publikation mit diesem Anspruch höchst unpassende Wort von einer „Welturaufführung“. Bei aller Eitelkeit: Uraufführung sollte doch reichen.
- Alfred Kirchner: Der Mann von Pölarölara. Autobiographische Splitter, Hollitzer Verlag, Wien 2020, 263 S., € 25,00, ISBN 978-3-99012-627-1