Mit ihren etwa 13.000 Exponaten gehört die Sammlung Prinzhorn zu den größten Sammlungen von Art brut beziehungsweise Outsider Art. Ihr Name geht zurück auf den Kunsthistoriker und Assistenzarzt der Heidelberger Psychiatrischen Klinik, Hans Prinzhorn, der zwischen 1919 und 1921 die ersten 6.000 Exponate von „Psychia-trie-Erfahrenen“ sammelte, darunter Zeichnungen, Aquarelle, Briefe, Texte, Notationen, Bücher und Collagen.
2013 ist der erste Band „ungesehen und unerhört“ erschienen – jetzt bietet der zweite Band erneut einen Überblick künstlerischer Reaktionen auf die Sammlung Prinzhorn, dieses Mal mit einem einzigartigen Fokus auf die Kunstsparte Musik. Für das Prinzhorn-Projekt haben in den vergangenen 15 Jahren das KlangForum Heidelberg, der WDR Köln, die Hanne Darboven Stiftung und das Mülheimer Festival „Utopie jetzt“ renommierten Komponisten Aufträge erteilt, darunter Namen wie Cornelius Schwehr, Georg Friedrich Haas, Matthias Kaul, Jay Schwartz, Naomi Pinnock, Steffen Schleiermacher, Matthias Ockert und Johannes Kalitzke. Alle Werke haben inzwischen ihre Uraufführung erlebt und wurden dem großformatigen Buch als CD-Mitschnitte beigelegt.
Eingeteilt in die Großkapitel Literatur, Theater/Performance und Musik ist Band 2 kein Buch, das man von vorne bis hinten durchliest, sondern eines, das sich dem Leser in Kreuz- und Quergängen durch die Genres Bild, Musik und Text erschließt. Die vielen Abbildungen verführen zum Blättern, man hat jederzeit die Möglichkeit, hörend nachzuvollziehen, wie die Komponisten auf die im Buch präsentierten Exponate der Sammlung Prinzhorn reagierten. Einführende Texte der Komponisten sowie diverse Essays eröffnen nicht nur zahlreiche Zugänge zur Sammlung Prinzhorn, sondern auch zu wesentlichen Strömungen der Musik der Gegenwart.
Oft stehen wir vor den Werken der Outsider-Künstler ähnlich ratlos wie vor Werken Neuer Musik. Walther von Stolzings Frage in Wagners „Meistersingern“ kommt in den Sinn: „Wie fang ich nach der Regel an?“ Darauf Hans Sachs: „Ihr stellt sie selbst und folgt ihr dann.“
Die Freiheit im Aufstellen ihrer eigenen Regel ist es, was die Kreationen der Prinzhorn-Künstler so faszinierend macht. Losgelöst von den Regeln der Konvention, des strengen Tonsatzes, der gültigen Farbenlehre und gängiger Ästhetiken schöpfen sie „frei“ aus ihrem Inneren. Frei aber auch nur scheinbar, denn zugleich sind die „Ver-rückten“ oftmals eingeschlossen in ihrem Wahn. Das Zwanghafte, Unabwendbare und Schicksalhafte haftet allen ihren Hervorbringungen an. Der Komponist Caspar Johannes Walter bringt es in seinem Text zu „Krumme Dinger 1“ auf den Punkt, was die Idee Prinzhorn so faszinierend macht: „Natürlich schreiben die Patienten aus innerer Not. Mir scheint, dass Kinder, Künstler und auch geistige Kranke in ihrer Vorstellungswelt oft ähnliche Streifzüge unternehmen. Die Realitätsprüfung hat nicht oberste Priorität, die Imagination einer persönlichen Nebenwelt steht im Vordergrund.“ Es fasziniert die Analogie zum Vorgehen des modernen Tonsetzers, der eben auch immer wieder vor der Frage steht, welche Regel er aufstellen soll, wie er ihr folgen will – und ob ihm selber dabei überhaupt jemand folgt.
Ein irritierendes Buch zur Kunst und zur Neuen Musik – aber zuallererst auch ein faszinierendes.
Ungesehen und unerhört. Künstler reagieren auf die Sammlung Prinzhorn, Bd. 2 (inkl 4 Audio-CDs). Hg. von Ingrid von Beyme und Thomas Röske, Verlag Wunderhorn, Heidelberg 2014, 200 S., e 49,80, ISBN 978-3-884234-07-5