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Jenseits traditioneller Darbietungsmusik

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Wolfgang Mende auf den Spuren des musikalischen Flügels der „Linken Front der Künste“
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Die sowjetische Musikmoderne der 1920er-Jahre hat in den letzten Jahrzehnten eine rege Erforschung in der internationalen Musikwissenschaft erfahren. Das Interesse war dabei wesentlich auf die Kompositionsgeschichte fokussiert, insbesondere den Aspekt technischer Neuerungen, die man ebenso oft wie pauschal als „Avantgarde“ etikettierte, weniger hingegen auf das Phänomen politisch gebundener Musikkonzepte im Rahmen des Aufbaus und der Entwicklung von „linker Kunst“. Den Terminus „Avantgarde“ ausschließlich für avancierte kompositionstechnische Neuerungen zu beanspruchen, scheint zu kurz gegriffen, denn schon seit den 1920er-Jahren stand auch ein mehr oder minder politisch konnotierter Avantgardebegriff im Raum – als Konzept von Kunst, die sich mit ihren (auch avancierten) Mitteln für gesellschaftlichen Fortschritt, das heißt im gegebenen Falle für das sozialistische Gesellschaftsmodell, einsetzt. Eben dieser Problematik – der Beschaffenheit, den Funktionen und Wirkungsformen der Musik im Horizont der sowjetischen Revolutionskultur – gilt Wolfgang Mendes ebenso materialreiche wie im Niveau gehaltvolle Studie; seine Ausgangsfragen sind: „Hatte die ,Linke Front der Künste‘ einen musikalischen Flügel? Ist die sowjetische Musikmoderne (…) als Teil dieser kulturrevolutionären Bewegung zu verstehen?“ (S. 12)

Mit „Linke Front der Künste“ (LEF) ist ein lockerer, informeller Zusammenschluss von Künstlern aller Sparten gemeint, die sich um die gleichnamige Zeitschrift (1922/23) gruppierten. Diese tendenzielle Offenheit erschwert es, von einer Gruppe im engeren Sinne zu sprechen und sie auf kohärente Prinzipien festzulegen; verbindend war offenbar nur die vage Idee einer revolutionären Umgestaltung des Lebens durch die Kunst.

Der erste Teil der Studie zeigt die Wurzeln der linken Kunst in den russischen futuristischen Bewegungen der 1910er-Jahre auf, deren gleichsam destruktive Komponente (ihr Einspruch gegen die etablierte Institution Kunst) sie in konstruktive Energien transformierte beziehungsweise funktional dem Aufbau der neuen kommunistischen Gesellschaft unterordnete. Teil zwei legt die komplizierten Entwicklungswege der linken Kunst bis circa 1930 dar, nimmt zeitliche und auf die Besonderheiten einzelner Künste eingehende Differenzierungen vor, benennt übergeordnete künstlerische Prinzipien und interne Auseinandersetzungen.

Der dritte und bei weitem umfangreichste Teil ist den sogenannten „linken Musikkonzepten“ in der Sowjet­union gewidmet. Im engeren Umfeld der LEF werden eine bunte Fülle von Ansätzen verfolgt, zum Beispiel die Bearbeitung und Integration von Tonaufzeichnungen (durch Verfremdung und Montage); Experimente zur Erweiterung des musikalischen Materials durch mikrotonale Systeme; der Einbezug von elektronischen Techniken der Musikerzeugung und -wiedergabe sowie des Geräuschs als künstlerisches Material.

Zu den Exponenten dieser Ansätze gehörten sowohl Vertreter der Massenorganisationen der proletarischen Kultur als auch Forscher an kunstwissenschaftlichen Instituten, weniger aber Komponisten im traditionellen Sinne. Als letztere werden von Mende ebenso ausgiebig wie kenntnisreich Nikolaj Roslavec, Vladimir Deševov und Aleksandr Mosolov vorgestellt, und sie wird man, einigen guten Willen vorausgesetzt, dem LEF-Milieu wohl im weitesten Sinne zurechnen dürfen. Allerdings sind die Tangenten bei genauerem Hinschauen nur schwach ausgeprägt; und der Rezensent kann sich nicht des Eindrucks erwehren, dass die LEF-Bestrebungen letztlich kaum oder gar nicht mit der anspruchsvollen Tradition der klassischen Darbietungsmusik (aus der auch die genannten Komponisten schöpften) zu vereinen waren.

Linke Ideologie der in Rede stehenden Art ließ sich eher über die Literatur, das Theater und den Film transportieren. Musik von Anspruch, darunter zumal die „reine“ – nichtwortgebundene und nichtprogrammatische, die ihre Qualitäten aus ihrer inneren Verfasstheit oder Form bezog – war den meisten Revolutionären fremd, wenn nicht unverständlich (von daher das Ausweichen auf experimentelle Nebenschauplätze) – ebenso wie umgekehrt den meisten Musikern von Rang die linke Ideologie.

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