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Manische Entfesselung geistiger Produktivkräfte

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Zum 100. Todestag von Hugo Wolf erscheint ein Buch von Dietrich Fischer-Dieskau
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Bestellen im nmz-shopDietrich Fischer-Dieskau: Hugo Wolf. Leben und Werk, Henschel, Berlin 2002, 558 S., 44 s/w-Abbildungen, 34 Notenbeispiele, € 39,90, ISBN 3-89487-432-5

Anlässlich des 100. Todestages von Hugo Wolf verfasste der Heldenbariton Dietrich Fischer-Dieskau, der sich vielfältig als Lied- und Opernsänger und auch als Dirigent mit dem Oeuvre des österreichischen Komponisten auseinandergesetzt hat, eine Biografie über dessen allzu kurzes Leben mit einer nur zehnjährigen Schaffensperiode.

Es scheint so, als müssten die Biografien berühmter Komponisten alle fünfzig Jahre neu geschrieben werden. Im Falle Hugo Wolfs, der am 13. März 1860 in Windischgratz geboren wurde und am 22. Februar 1903 in der Niederösterreichischen Irrenanstalt in Wien verendet ist, war eine neue Biografie hoch an der Zeit. Einerseits mussten frühere Arbeiten Rücksichten auf noch lebende Zeitgenossen üben, anderseits war Hugo Wolfs Syphilis ebenso ein Tabuthema wie seine langjährigen illegitimen Liebesbeziehungen.

Dass Fischer-Dieskau nun insbesondere in letzterem Punkt aus dem Vollen schöpfen kann, verdankt er seiner Kollegin Elisabeth Schwarzkopf: deren Gatte, der Schallplattenproduzent Sir Walter Legge, hatte bereits 1931 mehr als die Hälfte von Wolfs Liedern bei HMV auf Schallplatte veröffentlicht, die 1998 von EMI auf fünf CDs, in digitalem Remastering, neu veröffentlicht wurden. Eine zweite Wolf-Serie ließ Legge dann mit dem Pianisten Gerald Moore, der Schwarzkopf und Fischer-Dieskau folgen. Legge plante offenbar selbst eine Biografie des von ihm hoch verehrten Komponisten. Seine Wolf-Sammlung enthält insbesondere Briefe von Wolfs Eltern. In diesen Dokumenten fällt ein grelles Licht auf die grauenvoll zerrüttete Ehe von Hugos Eltern Philipp und Katharina. Die Briefe zeigen aber auch, mit wie viel Enttäuschung und Liebe der Lederer seinen Sohn wirtschaftlich unterstützte.

Fischer-Dieskau entwirft ein gut lesbares, anschauliches Bild von Wolfs Kindheit und Jugend, wobei der Ton im Elternhaus sich ungünstig auf die Charakterbildung Hugos und seiner Geschwister ausgewirkt hat.

Hugo Wolfs Bruder Gilbert ist extrem streit- und trunksüchtig; auch er scheitert am Leben, wie sein Bruder. Bei dem nur unter großen Schwierigkeiten eingeschlagenen Weg zum Musiker vermochte Wolf nicht, sich seinen Lehrern unterzuordnen und blieb Autodidakt.

Rastlos suchte er stets neue Wohnungen, lebte auch einige Zeit in Wohngemeinschaft mit dem jungen Gustav Mahler. Genervt von jedem Geräusch, erschoss Wolf die seine Ruhe störenden Singvögel mit einer Schrotflinte. Stets auf fremde Hilfe angewiesen, vermochte er kaum, mit neuen Leihgaben alte Schuldenlöcher zu stopfen. Wiederholt ließ er seine Partituren oder seine Honorare im Wartesaal, in der Straßenbahn oder in fremden Schubladen liegen und verlor sie so auf immer. Er war ungeduldig als Lehrer und scheiterte als Chordirigent am Landestheater Salzburg, nicht jedoch als Interpret seiner Lieder am Klavier. Nur mühsam fanden seine Kompositionen den Weg in die Öffentlichkeit.

Den verdankte er, neben der Hilfe selbstloser Freunde, insbesondere Wagnerianern, die den entschieden wagnerbegeisterten Wolf förderten. So waren es die Wagner-Vereine, denen Wolf seinen künstlerischen Aufstieg verdankte, und aus einem Wagner-Verein wurde auch der erste Wolf-Verein gegründet. Dem Thema „Antisemitismus“ widmet Fischer-Dieskau einen „dunklen Exkurs“: er verschweigt weder Wolfs dezidiert antisemitische Haltung noch Kräfte im Wagner-Verein, die behaupteten, Wolf sei selbst jüdischer Abstammung. So fand Wolf auch hier keinen Frieden und brüskierte sich über die „bodenlose Borniertheit dieser Wagnerverein-Menschen“. Zahlreiche Feinde hatte sich Wolf als ausfälliger, bissiger Kritiker pro Wagner und gegen Brahms und dessen Gefolgsleute gemacht.

Plastisch zeichnet Fischer-Dieskau Wolfs Ringen um einen Operntext, seine Probleme mit dem in zwei Fassungen vorliegenden „Corregidor“ und der unvollendeten Oper „Manuel Venegas“, die der Autor als einen Verismo-Reißer interpretiert.

Dass der Kritiker Wolff – zur Verwunderung Fischer-Dieskaus – Franz von Suppés Operette „Bellman“ freundlich lobte und „Die Fledermaus“ negierte, lässt sich autobiografisch erklären: Allzu deutlich spiegelte Johann Strauß’ Operette jene gesellschaftliche Doppelmoral, die Wolf auszuleben gezwungen war.

Wolf hatte sich mit knapp achtzehn Jahren im Bordell „Lehmgrube“ mit Syphilis infiziert. Exzentrische Arbeitsschübe höchster Produktivität lösten sich ab mit langen Phasen, in denen Wolf über keinerlei Inspiration verfügte und auch nichts zu Papier bringen wollte. Diese Schübe wurden ausgelöst durch die syphilitische Intoxikation und die Vorzeichen des Ausbruchs der Gehirnparalyse. Der Leser könnte aus der manischen Entfesselung geistiger Produktivkräfte den Schluss ziehen, Wolfs Krankheit sei die Erklärung seiner Genialität, einer Schlussfolgerung, gegen die Fischer-Dieskau sich entschieden verwehrt.

Die Errata dieser Publikation halten sich in Grenzen; so handelt es sich wohl um Druckfehler, wenn von „Siegmond“ (statt Siegmund) in der „Walküre“ und von „Lobedanz“ (statt „Lobetanz“), der von Bierbaum Wolf angebotenen und dann von Thuille vertonten Dichtung, die Rede ist. Aber es verwundert, dass Fischer-Dieskau, der sich schriftstellerisch und als Interpret bei Wagner bewährt hat, im Zusammenhang mit der Wiener Fassung von Wagners „Tannhäuser“ von „dem zum Venusberg überleitenden Ouvertürenschluss“ spricht (S. 48), obgleich in dieser Fassung die Ouvertüre (erstmals) nahtlos ins Bacchanale überleitet. Dietrich Fischer-Dieskaus umfangreiche, der Biografie nachgestellte, aus Erfahrungen des Interpreten gereifte, subjektive Betrachtung der Liederzyklen von Hugo Wolf gehört zu den besten Seiten dieses Buches.
So gesehen bietet die Neuerscheinung eine echte Bereicherung, in Ergänzung zu der auch von Fischer-Dieskau häufig zitierten Arbeit von Frank Walker (Graz 1953), die ein sehr viel exakteres Werkverzeichnis und eine größere Anzahl komplett zitierter Briefe Wolfs enthält.

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