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Julian Barnes: Der Lärm der Zeit. Roman, Kiepenheuer & Witsch, Köln 2017, 256 S., € 20,00, ISBN 978-3-462-04888-9
Julian Barnes: Der Lärm der Zeit. Roman, Kiepenheuer & Witsch, Köln 2017, 256 S., € 20,00, ISBN 978-3-462-04888-9
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Moralische Korruption

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Ein Schostakowitsch-Roman von Julian Barnes
Publikationsdatum
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Kein Buch über „Gestern“: Denn wie lebt und komponiert es sich als unabhängiger Künstler unter Erdogan, Orban, Lukaschenko oder Putin, wie im Land von Kaczynski? Wie sähen Kompositionsaufträge, Programme und Spielpläne nach Wahlsiegen von Le Pen oder Wilders aus? Dimitri Schostakowitschs Leben unter Lenin, Stalin, Chruschtschow und Nachfolgern ist historisch und musikwissenschaftlich vielfach beschrieben. Julian Barnes bietet nun ein spannendes, reizvoll abwechslungsreich zu lesendes Psychogramm, das auch viele der zentralen Fakten enthält. Grundlegend stellt Barnes’ Schostakowitsch fest, dass es, seit Stalins Herrschaft etabliert war, nur zwei Arten von Komponisten gab: „Die einen waren am Leben und hatten Angst, die anderen waren tot.“

Schostakowitsch ist einer, der speziell nach der öffentlichen Verdammung seiner „Lady Macbeth von Mzensk“ als „Chaos statt Musik“ nachts mit gepacktem Koffer am Lift sitzt – um die Familie zu schützen, wenn er abgeholt wird.

In diesen Stunden zieht nun im „stream-of-consciousness“ eines vom Terror durchzogenen, geprägten und erinnerten Lebens dies und das und jenes vorbei: hoffnungsvoll optimistisch die Liebesbeziehungen, erneut angstschweiß-nass die Gespräche mit der „Macht“, beschämt und voller Selbst-ekel die Erinnerung an Schwächen, Verleugnungen von Freunden und Größen wie Pasternak und Solschenizyn, von musikalischen Idolen wie Hindemith, Schönberg und vor allem Strawinsky. Erschreckend wird eine Lebenslinie in jeglicher Diktatur klar: die der „moralischen Korruption“ – hier in Schostakowitschs Leben, zum Teil in seinen Kompositionen – dann aber auch seine kompositorisch überlegene Sperrigkeit.

Entlarvend wird die Sichtweise von freiheitlich-demokratisch Wohlmeinenden von Shaw über Malraux hin zu den vielen westlichen Schostakowitsch-Unterstützern deutlich: zu oberflächlich, zu wenig realitätsnah. Wie dabei die Erinnerungen springen, ergibt das mal kurze, mal längere Absätze. Auch die Sprache wechselt fein zwischen farbig emotional und trocken sachlich. Dahinter wird eine zwischen Anerkennung, Aufstieg, Gefährdung und Absturzangst unruhig changierende, erschreckende Lebenslage fassbar.
Barnes’ Buch ist etwas für die bedeckten Urlaubstage des Musikfreundes, um danach den realen wie den kulturpolitischen Sonnenschein abseits der eingangs genannten Autokraten dankbarer zu genießen.

  • Julian Barnes: Der Lärm der Zeit. Roman, Kiepenheuer & Witsch, Köln 2017, 256 S., € 20,00, ISBN 978-3-462-04888-9

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