Es sind ja nicht nur stumpfsinnige Gotteskrieger, die historisches Kulturgut schänden und auf immer der Menschheit entreißen. Auch in hiesigen Hemisphären gibt es mehr als genug Geschäftemacher und Politiker, denen die Weitsicht fehlt, kulturelles Erbe zu schützen. Sie mögen studierter sein; gebildeter oder gar klüger sind sie allerdings nicht.
Immer mal wieder gibt es Aufbegehren gegen Kulturabbau und Werteverfall. Der Dirigent Kent Nagano hat den Widerspruch jetzt aus ganz tiefem Wissen sowie aus eigenen Erfahrungen heraus formuliert. Er ist an der amerikanischen Westküste als Nachkomme japanischer Auswanderer aufgewachsen und betont seine bäuerliche Herkunft aus einem Nest namens Morro Bay. Er hatte das doppelte Glück, dass ihn seine Mutter frühzeitig ans Klavier setzte und dass mit dem Georgier Wachtang Korisheli, dessen Vater 1936 von Stalins Schergen ermordet worden ist, ein „Musikwunder in diesem Fischerdorf“ Einzug hielt.
Der 1921 in Tiflis geborene Musiker gelangte auf abenteuerlichen Umwegen nach Kalifornien und gründete dort mehrere Ensembles und Orchester. Er muss eine faszinierende Anziehungskraft auf die Kinder ausgeübt haben. So auch auf den kleinen Kent Nagano.
Der einstige Musikchef von Lyon, von Manchester und von Los Angeles, der Chefdirigent des Deutschen Symphonie-Orchesters Berlin, Generalmusikdirektor der Staatsoper München und baldige GMD in Hamburg hat gemeinsam mit Inge Kloepfer weit mehr als nur eine Biografie verfasst, sein Buch „Erwarten Sie Wunder!“ ist ein Zeitbild, ein Aufschrei im Dienste der Kunst und der Musik.
„Klassische Musik ist ein Universum, das sich ausdehnt, sobald man sich hineinbegibt“, schreibt er in seinem Prolog zu diesem Buch, das sich einerseits rein biografisch den musikalischen Lebensstationen von Kent Nagano widmet, andererseits aber auch die für ihn prägendsten Musikerpersönlichkeiten von Bach bis Bernstein und Charles Ives porträtiert. Bei Bach ist es die profunde Tonsprache, die für Nagano eine existenzielle Haltung ausspricht.
Bei Schönberg sind es die kompromisslosen Schritte aus dem Korsett der Tonarten heraus, bei Beethoven sticht die Utopie von Frieden und Gleichberechtigung hervor, die bis heute unerfüllt geblieben ist. Durch Messiaen begann er, ein tieferes Verständnis für Europa zu entwickeln. Dessen Spiritualität ist Nagano bis heute eine offene Frage geblieben. Bruckner ist ihm vor allem mit Jugenderinnerungen verbunden und Charles Ives’ „Unanswered Question“ sieht er im Rückblick als immer noch offene Hoffnung.
Naganos Plädoyer für einen lebendigen Umgang mit klassischer Musik will er in einem sozialen Kontext verstanden wissen: „Offenheit, Kreativität, Inspiration und Demut“ lerne nur, „wer Dingen begegnet, die größer sind als er selbst.“ Jedem Kind ein Instrument? Jedem Menschen Musik!
- Kent Nagano: Erwarten Sie Wunder! Expect the Unexpected. Berlin Verlag, Berlin 2014, 320 S., € 22,90, ISBN 978-3-8270-1233-3