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Jeremy Eichler: Das Echo der Zeit. Die Musik und das Leben im Zeitalter der Weltkriege, Klett-Cotta

Jeremy Eichler: Das Echo der Zeit. Die Musik und das Leben im Zeitalter der Weltkriege, Klett-Cotta

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Musik gegen das Vergessen

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„Das Echo der Zeit“ taucht über vier Werkgeschichten in das Jahrhundert der Weltkriege ein
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Jeremy Eichler: Das Echo der Zeit. Die Musik und das Leben im Zeitalter der Weltkriege, Klett-Cotta, Stuttgart 2024, 464 S., € 32,00, ISBN 978-3-608-96586-5

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Krieg und Zerstörung haben als Gegenstand immer wieder Eingang in die Kunst gefunden; Musik eignet sich hierfür offenbar auf ganz besonders intensive Weise. Der amerikanische Musikkritiker Jeremy Eichler spiegelt das an vier Werken, die unter dem Eindruck des Zweiten Weltkriegs entstanden: die „Metamorphosen“ von Richard Strauss, Arnold Schönbergs „Ein Überlebender aus Warschau“, Benjamin Brittens „War Requiem“ und Dmitri Schostakowitschs 13. Sinfonie „Babi Jar“ – Werke, die „mit die wichtigsten moralischen und ästhetischen Stellungnahmen des 20. Jahrhunderts darstellen“.

Persönliche Verarbeitung und zeitgeschichtliche Zeugnisse

Richard Strauss’ „Metamorphosen“ sind eine direkte Reaktion auf seine unglückliche Vergangenheit in der NS-Zeit, in der er kurz Präsident der Reichsmusikkammer war, sich dann bald dem Regime entfremdete und am Ende in gefährliche Isolation geriet. 1945 versank er angesichts von Tod und Zerstörung in tiefe Trauer, aus der er sich gewissermaßen selbst mit den „Metamorphosen“ für 23 Streicher rettete – eine „reuevolle, philosophische Meditation in majes­tätisch gramvoller Schönheit“. Gesellschaftlich rehabilitiert wurde er wiederum vom Exilanten Arnold Schönberg.

Strauss hatte sich vor 1933 mehrfach für Schönberg eingesetzt, und umgekehrt hatte ihm dieser nach 1945 ein entlastendes Alibi ausgestellt. Schönberg, schreibt Eichler in seinem Buch, sah in seinem eigenen Werk eine Symbiose von deutscher und jüdischer Kultur. Entsprechend bitter war die Enttäuschung nach 1933 im amerikanischen Exil. Inzwischen gibt es viele Berichte über die am Pazifik lebenden deutschen Exilanten, so hier das Auf und Ab in Schönbergs Beziehungen zu Adorno oder Thomas Mann, der Schönberg mit seinem „Faustus“-Roman zunächst heftig verärgerte.

Als nach 1945 immer mehr Verbrechen in den NS-Vernichtungslagern bekannt wurden, stand für Schönberg, der sich wieder konsequent als ein „jüdischer Künstler“ verstand, fest, an die Opfer zu erinnern. Er fand erste Anregungen in einem jüdischen Partisanenlied, das er mit anderen Texten ergänzte und daraus ein sieben Minuten dauerndes Werk für Erzähler, Männerchor und Orchester schuf: „Ein Überlebender aus Warschau“.

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Jeremy Eichler: Das Echo der Zeit. Die Musik und das Leben im Zeitalter der Weltkriege, Klett-Cotta

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Kunst als Gedächtnis

Die Kapitel zu dessen Uraufführung am 4. November 1948 lesen sich wie ein spannender Roman. Sergej Koussevitzky, Chef des Boston Orchestra, verzögerte eine versprochene Aufführung. Durch Zufall sprang der emigrierte Dirigent Kurt Frederick ein. Er leitete in dem Städtchen Albuquerque in New Mexiko ein Laienorchester („Sekretärinnen, Blumenhändler, Lokomotivführer“), sein Chor bestand aus Farmern und Cowboys, die aus bis zu 80 Kilometer Entfernung durch Schneestürme anreisten. Alle gro­ßen Zeitungen waren gleichwohl zur Aufführung in einer Sporthalle angereist. Das Time Magazine berichtete dann von „donnerndem Applaus“, so heftig, dass Frederick das Werk sofort wiederholte. „Survivor from Warszaw made tremendous impression“ telegrafierte er an Schönberg.

Für Eichler ist Schönbergs Intention klar: „Die Kunst behält im Gedächtnis, was die Gesellschaft gerne vergessen würde“. Eine Wirkung, die Eichler so ähnlich auch Benjamin Brittens „War Requiem“ und Dmitri Schostakowitschs 13. Sinfonie „Babi Jar“ attestiert.

Brittens „War Requiem“, uraufgeführt am 30. Mai 1962 in der wiederaufgebauten Kathedrale von Coventry (bei der der deutsche Sänger Dietrich Fischer-Dieskau so ergriffen war, dass man ihn gar nicht zum Verlassen der Kirche bewegen konnte), war nach dem lateinischen Messetext und Gedichten des 1918 gefallenen „Schützengrabenpoeten“ Wilfred Owen komponiert und hatte ebenfalls „überwältigenden Erfolg“.

Musik mit Zivilcourage

Dmitri Schostakowitsch, den mit Britten eine Freundschaft verband, nannte das „War Requiem“ das „mit Sicherheit genialste Werk des gesamten zwanzigsten Jahrhunderts“. Seine eigene 13. Sinfonie „Babi Jar“, wurde ebenfalls 1962, am 18. Dezember, in Moskau uraufgeführt. Der junge Dichter Jewgeni Jewtuschenko hatte nach einem ihn zutiefst bewegenden Besuch der Babi Jar-Schlucht bei Kiew, wo die Deutschen im September 1941 30.000 Juden erschossen hatten, sein aufrüttelndes Gedicht zum Massenmord und gegen das Vergessen geschrieben. Die Staatsführung versuchte vergeblich, es zu unterbinden, auch Schostakowitschs Sinfonie, deren erster Satz das Babi Jar-Gedicht enthält und die nachfolgenden Sätze weitere Textpassagen von Jewtuschenko, die dem Regime nicht genehm waren.

Die Aufführung ist ein Ruhmesblatt russischer Zivilcourage. Der Dirigent Kirill Kondraschin widerstand allem Druck, ebenso Sänger und Orchester, auch Schostakowitsch selbst. Dann überwältigender Beifall bis zu einer draußen wartenden Menge. An Jewtuschenko schrieb Schostakowitsch: „Ich werde mich vor Ihnen tief verbeugen aus Dankbarkeit, mir geholfen zu haben, das Problem des Gewissens in der Musik auszudrücken.“

Für den Autor ist damit gesagt, was sein Buch vermitteln will: Es sei die „geheime Stärke der Musik“, ein Medium der Erinnerung zu sein. Er macht das überzeugend an den genannten Beispielen klar, verbindet das mit tie­fer Kenntnis der Musik und ihrer Kontexte. Entstanden ist ein ungemein lesenswertes Buch zur Sozial- und Kulturgeschichte der Musik.

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