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Georgina Born: Rationalizing Culture. IRCAM, Boulez and the Institutionalization of the Musical Avant-Garde. Berkley, Los Angeles, London, 1995: University of California PressSarah Thornton: Club Cultures. Music, Media and Subcultural Capital. Cambridge, 1995: Polity
Helen Thomas: Dance, Modernity and Culture. Explorations in the Sociology of Dance. London, 1995: Routledge.
Brian Longhorst: Popular Music and Society. Cambridge, 1995: Polity.
Zuweilen mutet das Angebot der deutschsprachigen Experten aus den Sozialwissenschaften sehr dünn an, wenn man sich auf die Suche nach Studien zu zeitgenössischen Formen des Musizierens macht. Eher noch wird bildende Kunst zum Thema als Tanz, eher wird Popkritik formuliert als die Lebenswelten von Club-Besuchern erforscht. Freilich fängt die Soziologie populärer Musik längst nicht mehr bei Theodor W. Adorno an und hört genausowenig bei Nik-las Luhmann auf. Obwohl es hierzulande beherzte, wegbahnende Versuche etwa von Jürgen Gerhards gibt, Musik (und andere Künste) und Gesellschaft analytisch aufeinander zu beziehen, so sind es doch immer wieder unsere britischen Nachbarn, die uns nicht nur die „Electric Music“-Experimente eines Gary Numan und den Britpop von Oasis vorführen, uns die Beatles und die Spice Girls schenken, sondern obendrein empirisches und theoretisches Material nachliefern. Verantwortlich dafür zeichnen maßgeblich die Vertreter der Birminghamer Schule der britischen Cultural Studies und auch ein so fruchtbarer Forscher, Autor und Mentor wie Simon Frith in Glasgow.
Verzichten wir einmal getrost auf die eher künstliche Unterscheidung von populärer und ernster Musik und nehmen an, daß es durchaus vergleich-bare Akteure, Prozesse und Strukturen zu beobachten gibt, sobald man den Schritt in die oft sehr nahe- gelegene und doch fremd erscheinende Welt von künstlerisch tätigen Individuen und Gruppen wagt.
An erster Stelle sei die sehr umfangreiche, außergewöhnliche und engagierte Arbeit von Georgina Born (Goldsmiths’ College, London) präsentiert. Born befand sich über die Dauer des Jahres 1984 in sehr direktem Kontakt mit dem IRCAM (Institut de Recherche et de Coordination Acoustique/Musique) und seinen Akteuren in Paris, besuchte es und informierte sich jahrelang weiter über Details und Entwicklungen. Das IRCAM ist ein breit angelegtes Projekt zur Erforschung und Produktion von Computer-Musik – das größte seiner Art weltweit, 1977 von Pierre Boulez gegründet und bis 1992 von ihm geleitet. Born näherte sich dem IRCAM ethnografisch, das heißt sie nahm an Prozessen innerhalb dieses breit angelegten ästhetischen und soziologischen Experiments persönlich beobachtend teil, unter anderem in Kursen, Exekutiv-Meetings und mit unzähligen Interviews. Damit beschritt sie eine den Sozialwissenschaften noch allzu unbekannte (Lebens-) Welt – jene der Avantgarde-Musik. Popmusik ist bereits mehr Aufmerksamkeit zuteil geworden.
Einige wesentliche Themen: (a) Zwei Widersprüche der musikalischen Avantgarde werden am Beispiel des IRCAM untersucht: Einerseits ist sie trotz ihres kritischen Anspruchs selbst etabliert; andererseits fährt sie fort, den Fortschritt der Musik anzukündigen. Wie ergeht es einer Kunstform, wenn die auf Kommunikationen aufbauende Gesellschaft nicht mit ihr kommunizieren kann, nicht hinhören will? Wie gehen die modernen Komponisten und Institutionen des Musiklebens damit um, weder große Zuhörerschaften noch große (staatliche) Unterstützung für sich zu erfahren? Wie kommt es (soziologisch), daß das IRCAM auf ein außerordentliches Engagement des französischen Staates aufbauen kann? (b) In bezug auf die Moderne stellt sich die Frage, inwieweit Musik als Wissenschaft anzusehen wäre. Wie stellt sich der Produktionsrahmen für Avantgardemusik dar? Welche Arbeitsteilung wird zwischen Komponisten, EDV-Technikern und aufführenden Künstlern betrieben? Zu welcher Sicht auf das Verhältnis von Autorenschaft und kultureller Produktion führen die Beobachtungen im IRCAM? (c) Mit den Beobachtungen im IRCAM verbindet Born eine profunde (historische) Analyse des Verhältnisses von musikalischer Moderne und Postmoderne, da die Institution nicht ohne Rekurs auf ihre fundamentalen ästhetischen und philosophischen Traditionen verstanden werden könne. Dabei zeigt Born wichtige Kontinuitäten und Diskontinuitäten in den Diskursen um Moderne und Postmoderne auf, die in wechselseitigen Kritiken gerne unter den Tisch gekehrt werden – auf das IRCAM hin analysiert aber plötzlich sehr lebendig zu sprechen beginnen.
Dies sind einige der zahlreichen weiteren Fragestellungen, auf die Born mit enormer musikalischer und wissenschaftlicher Sachkenntnis Antworten anzubieten hat. Nur soviel hier: Born beschreibt eine sowohl ästhetische als auch soziologische Krise der zeitgenössischen Musik und ihrer Akteure, eine Kondition des chronischen Selbst- und Fremdzweifels. Sie hat ein komplexes und herausforderndes, kurz: exzellentes Buch vorgelegt.
Einer anderen Form von musikalischer Institution hat sich zu Beginn der 90er Jahre Sarah Thornton (University of Sussex) zugewandt: dem Musik-Club. Doch im weiteren Kontext geht es freilich um eine Neubetrachtung der Rave-Kultur in England, eines der am meisten mißverstandenen Jugendkultur-Phänomene des ausgehenden 20. Jahrhunderts.
Nachdem populäre Tanzkulturen allzu lange in einer unsinnigen Hoch/niedrig-Distinktion innerhalb der Popmusik-Diskurse (Rock über Pop, Pop über Disco-Tanz) den kürzeren gezogen haben, versucht Thornton, die Aufmerksamkeit darauf zu lenken, daß Rock-Ideologie ebensowenig weit führt wie die normative Rede vom Vorrang des Sublimen über das Triviale. An vielerlei Orten und in verschieden starker Rückkoppelung zueinander haben sich DJ-Kulturen entwickelt, die zum Teil das Rockstar-System relativiert oder ersetzt haben.
Rebellische Jugend?
Thornton kommt weg von dem altbekannten Diskurs über Jugend-Subkultur (Hauptvertreter: Dick Hebdige, welcher dieselbe am liebsten romantisierend als Ausdruck rebellischer Opposition gegen das Establishment in Politik und Kultur interpretierte). Zahlreiche Anschlußthemen werden mit Gewinn neu angegangen: abweichendes Verhalten (Drogenkonsum), Globalisierung (Ausdifferenzierung transnationaler Milieus), künstlerische Authentizität wird neu gefaßt und auf neue Formen von Live-Performanz erweitert. In theoretischer Hinsicht offeriert Thornton ein analytisches Instrument: das subkulturelle Kapital in Anwendung der Untersuchungen Bour-dieus zu Geschmackskulturen.
Auch diese Arbeit gründet auf ausgiebigen ethnografischen Studien, hebt sich also von unrealistischen Schreibtischtaten positiv ab. So kann es auch als Vorteil angesehen werden, daß zwar neue Verständnisse angeboten werden, gleichwohl aber weiterweisende Fragen aufgeworfen werden – eine Unabgeschlossenheit, aus der aktive Leser profitieren können.
Tanz vereinigt
Mit einem besonderen Aspekt musikalischen Handelns beschäftigt sich helen Thomas (Goldsmiths’ College): Moderner US-amerikanischer Bühnen-Tanz (im Unterschied zu Club-Raves) wird soziohistorisch in seiner Entwicklung und mit besonderem Fokus auf Schlüsselakteurinnen beschrieben. Tanz erscheint als Kristallisationsfeld mehrerer Künste – Tanz vereinigt (traditionsbrechende) Musik, Theater, bildende Kunst und Literatur auf eigentümliche Weise. Anknüpfungspunkte darzustellen, wie diese Ausdrucksformen speziell in Tanzmilieus und im weiteren gesellschaftlichen Kontext kommunizieren, ist das Ziel der Arbeit von Thomas. Wir erfahren, wie Tanz in modernen westlichen Kulturen dreifach marginalisiert ist: als Kunstform, als körperliche Form der Kommunikation, als weitgehend von Frauen dominiertes Feld.
Eine Schwäche des vorrangig explorativ gemeinten Buches mag sein, daß Thomas kaum die weiterführenden Wege einer eingehenderen theoretischen und empirischen Befassung aufzeigt, wodurch ein Vakuum der Interpretation entsteht. Etwa: Was bedeutet je nach theoretischer Leseart die spezifische Rezeption und Rezension des modernen Tanzes in den USA, wie steht es um die gegenwärtige Situation (Personen, Formen, Diskurse) des modernen Tanzes in den USA? Eine andere Schwäche liegt in der unterentwickelten, also unpräzisen Begriffsarbeit, in dem kursorischen und unterdifferenzierten Überblick (oberflächliche Mak-roperspektive). Selten sind Prozesse und Bedingungen der Entwicklung des modernen Tanzes in adäquaten sozialwissenschaftlichen Beschreibungsmodi ausgeführt. Manchen Leser mag diese Unterkomplexität dennoch erfreuen, da sich das Buch somit als sehr erzählerisch darstellt.
Überblick über das Feld
Ein Autor nach drei Autorinnen soll den Überblick beschließen. Und es trifft sich, daß gerade Brian Longhurst seinerseits angetreten ist, einen Überblick über das Diskussions- und Forschungsfeld der Popularmusiken (der britischen Gesellschaft im besonderen und der westlichen im allgemeinen) anzubieten. Dozent an der Universität von Saltord/UK, schrieb dieser Autor ein genauso umfassendes, kenntnisreiches wie leicht lesbares und anregendes Buch, geeignet für Lehrende und Lernende, für Experten und solche, die es werden wollen. Mit einem simplen Schema umreißt er die Konturen des Phänomens Popmusik in der Gesellschaft: Produktion – Text – Rezipienten lauten die drei Aspekte, unter denen Longhurst jeweils neue und wiederkehrende Zusammenhänge wendet und beleuchtet. Nach einem theorievergleichenden Einleitungskapitel werden also die schillernden Aspekte der (sozialen) Produktion von Popmusik, das Wesen ihrer Produkthaftigkeit (Pop als „Text“) sowie der Konsum durch Zuhörerschaften entfaltet. Damit erarbeitet Longhurst seinen Lesern Einblicke in Fragen des Urheberrechts, der Produktkontrolle, in Studien über die Arbeit von Musikern, in den Wandel von Musik-Technologien und Aufnahmeprozeduren. Musik als Text führt zur formalen Entwicklung von Stilen, deren politische und kulturelle Rezeption (insbesondere für Sex-und-Gender-Belange) und untersucht elementare Fragen der Bedeutung von Liedtexten, Mode und Musikvideos. Schließlich stehen Kon-sumtrends, Subkulturphänomene, die Fans und deren eigene Produktivität im Blickfeld – also die Tatsache, daß Fans mit den Angeboten der Musikindustrie mitunter sehr eigenständig und kreativ umgehen. Allzu schnelle und simplifizierende Schlüsse werden nicht gezogen, die Lektüre regt zum Weiterdenken- und Beobachten geradezu an, wirft lieber Fragen auf, statt Gewißheiten in einem sich rasch wandelnden Bereich modernen sozialen Lebens zu zementieren. Die wesentlichen (weil allenthalben zitierten) Ansätze des Umgangs mit Popularmusik werden plastisch dargestellt und verglichen. Stets wird aus einem vielseitigen Repertoire an bereits vorliegenden Fallstudien (wissenschaftlicher und journalistischer Art) geschöpft, um gar zu abstrakte Diskurse zu erhellen und um herrschende Bilder zu korrigieren.
Alle vier Arbeiten zeichnen sich durch den Mut aus, unerschlossene Felder der Beobachtung von sowie die Reflektion über Musik und Gesellschaft zu betreten und weiße Flecken auf den Landkarten vieler Musik-Experten mit Wissen und Leben zu füllen – mit dem Leben jener, die dort originär zu Hause sind. Dabei gehen sie kenntnisreich und behutsam vor, poltern nicht mit den Hämmern sogenannter aufgeklärter Kritik herum. Vier Studien, vier Informationsquellen, die zu empfehlen und zu diskutieren sind.