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Schneewittchen, Julia und andere Tote

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Dokumentation eines interdisziplinären Symposions in Frankfurt
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Ute Jung-Kaiser (Hg.): ...„das poetischste Thema der Welt“? Der Tod einer schönen Frau in Musik, Literatur, Kunst, Religion und Tanz. 1. Interdisziplinäres Symposion der Hochschule für Musik und Darstellende Kunst Frankfurt 1999. Peter Lang AG, Europäischer Verlag der Wissenschaften, Bern 2000. 334 Seiten, E 50,60, ISBN 3-906764-745.

Ute Jung-Kaiser (Hg.): ...„das poetischste Thema der Welt“? Der Tod einer schönen Frau in Musik, Literatur, Kunst, Religion und Tanz. 1. Interdisziplinäres Symposion der Hochschule für Musik und Darstellende Kunst Frankfurt 1999. Peter Lang AG, Europäischer Verlag der Wissenschaften, Bern 2000. 334 Seiten, E 50,60, ISBN 3-906764-745.Ein umfangreicher, inhaltlich gewichtiger, in Aufmachung und Ausstattung dem „poetischen“ Thema überaus angemessener Band. Es macht Freude, das schöne Druckbild und die vielen hervorragenden Bilder in Augenschein zu nehmen.

Was aber ist das Thema? Das Poe-Zitat wirkt zunächst als Blickfang, das Fragezeichen verweist aber schon auf seine Hintergründigkeit, auf das schwer fassbare Wesen des Themas und die Zeitgebundenheit seiner Deutungen. Die nachfolgende nüchterne Formulierung „Der Tod einer schönen Frau ...“ ist eine Festlegung des Stoffes, bestimmt also die Auswahl der Gegenstände und der verschiedenen Bereiche, denen sie entstammen, ist dabei aber so offen, dass kaum etwas, was mit Frau und Tod zu tun hat, ausgeschlossen ist.

Diese Offenheit hat Vor- und Nachteile: Da sich mit jedem einzelnen Inhalt ein komplexes Problemfeld öffnet, fällt es schwer, die einzelnen Beiträge aufeinander zu beziehen. Andererseits ist die Offenheit nötig, um die Komplexität des Hauptmotivs zum Tragen zu bringen. Wenn man bedenkt, dass das Thema in mythische Vorzeiten beziehungsweise in archetypische Tiefen zurückverweist, wird die poetisch-offene Themenformulierung zielgenau, denn solche Mythen und Archetypen werden jeweils in immer neuen, teilweise überraschenden Varianten und Vermischungen aktualisiert. Der Begriff des Interdisziplinären bezieht sich also mehr darauf, dass ein Sujet in verschiedenen Künsten auftaucht, weniger darauf, dass ein Gegenstand von verschiedenen Zugangsweisen her erschlossen wird. Erfreulicherweise nutzen aber manche Beiträge die Chance, auch Möglichkeiten einer solchen Integration auszuloten.

Die ersten Beiträge entführen in die Literatur: Marianne Kesting schreibt Sicht über „Auferweckung und Tötung der Frau bei Edgar Allan Poe“. Verschiedene Varianten des Themas werden nacherzählt und – auch psychoanalytisch und biografisch – gedeutet.

Einen stärker interdisziplinären Ansatz wählt Lutz Röhrich in seinem Beitrag über „Schneewittchen und andere Tote in der Volksliteratur“, der ein anregend gemischtes Material (Volkslied, Märchen, Texte und Bilder) hinsichtlich der vielfältigen Kontextualisierungen des Motivs kenntnisreich vorstellt und interpretiert. Werner Aderhold gewinnt Schuberts Lied „Der Tod und das Mädchen“ und dem gleichnamigen Streichquartett neue Deutungsnuancen ab hinsichtlich der geistesgeschichtlichen Hintergründe und einer Ästhetik des Weiblichen.
In vielen Balletten, deren Protagonistinnen als Elementarwesen einer nicht-menschlichen Sphäre angehören (La Sylphide, Schwanensee, Der Nussknacker, Dornröschen), wird diese Idee besonders plastisch greifbar (Katja Schneider: „Zu Tode getanzt“). In der Beziehung zum Mann findet eine Grenzüberschreitung statt, „die sexualisierte Frau ist eine potenziell vom Tode bedrohte Frau“ (S. 94). Wie dieser Zwischenbereich und der Moment des Sterbens ästhetisch wahrnehmbar gemacht werden, wird an choreografischen und gestisch-mimischen Details differenziert demonstriert, nicht aber an der Musik.

Weg von solchen Bildern idealisierter Weiblichkeit und des schönen Liebestods führt der Beitrag von Monica Steegmann („Strawinsks Sacre du Printemps: Sanktionierte Tötung einer schönen Frau oder Alibi für einen Mord?“. Die Tötung der Frau ist hier ein urzeitliches Opferritual, vergleichbar dem griechischen Persephone-Mythos. Einfühlsam werden die Genese des Werks und seine epochale Bedeutung dargestellt. Eine besondere Note erhält der Beitrag aber vor allem durch den feministischen Blick auf die Geschlechterrollen, bei dem auch Strawinskys Nicht-Verhältnis zu seiner Frau Vera eine Rolle spielt. Ein Kabinettstück in diesem Argumentationszusammenhang ist die Deutung der Zeichnung „Strawinsky spielt ‚Le sacre du printemps’“ von Cocteau aus dem Jahre 1912.

Eine echte Überraschung ist der Beitrag von Gudrun Kohn-Waechter („Kein schöner Tod mehr. Die Krise des Geschlechtsverhältnisses und der neue Glaube von Arnold Schönberg aus der Zeit des Übergangs zur Zwölftonkomposition“). Schönbergs neue musikalische Raumkonzeption wird auf vielfältige Weise in Zusammenhang gebracht mit mythisch-religiösen und philosophischen Vorstellungen der Zeit, mit denen Schönberg sich in seiner eigenen Lebenskrise fruchtbar auseinander gesetzt hat.

Den weiten Horizont vom mythischen Urgrund bis in die Jetztzeit umfasst zum Schluss noch einmal der Beitrag der Herausgeberin in souveräner Weise. Das Thema „Orpheus und Eurydice“ eignet sich dafür gut. Der Aspekt des Interdisziplinären kommt hier wirklich zum Tragen, und zwar in der Form, dass mythisch- religiöse Vorstellungen, bildnerische und musikalische Zeugnisse in genauen Analysen aufeinander bezogen und dadurch zum Sprechen gebracht werden. Wie hier vielfältige musikwissenschaftliche Forschungsergebnisse akzentuierend gebündelt, mit dem komplexen Aspekte- und Deutungsgeflecht des Rahmenthemas zusammengebracht werden, ist beeindruckend.

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