Endlich ist die umfangreiche Biografie des großen polnischen Violinisten, Pazifisten und Vordenkers eines vereinigten Europas Bronislaw Huberman (1882–1947) von Piotr Szalsza auf Deutsch erschienen. Sie kam bereits 2001 in Polen heraus. Es wäre mehr als gut gewesen, hätte man sie sogleich auch in andere europäische Sprachen, darunter die deutsche, übersetzt. Denn Szalsza, Jahrgang 1944, von Haus aus Bratscher, dann Produzent und Regisseur von preisgekrönten Dokumentationen etwa über Frédéric Chopin, Witold Lutoslawski oder eben Bronislaw Huberman, stellt mit seinem gut recherchierten Buch einen der bedeutendsten Musiker des 20. Jahrhunderts vor. Er erinnert mit Vehemenz daran, welche enorme Rolle dieser fantastische Geiger nicht nur als einzigartiger Virtuose, sondern auch als engagierter politischer Aktivist für eine europäische Union in der Zeit zwischen Erstem Weltkrieg und 1933, dem Beginn der Nazischreckensherrschaft, spielte.
Allerdings irrt der Untertitel „Leben und Leidenschaften eines vergessenen Genies“, denn vergessen war Huberman nie. Wer sich je mit der Geschichte des Violinspiels beschäftigt hat oder neu befasst, weiß, welchen überragenden und unverwechselbaren Rang Huberman eingenommen hat und in Manchem immer noch einnimmt. Dann sind in den Achtziger- und Neunzigerjahren nahezu alle Tondokumente, die Huberman sowohl als Studioproduktion wie als Live-Mitschnitt hinterlassen hat, auf CD herausgekommen – und sie haben Geigen-Afficionados ebenso fasziniert oder irritiert wie Musikhistoriker und -liebhaber.
Kürzlich ist außerdem ein Buch erschienen, das Hubermans Einsatz für ein „Paneuropa“, also ein vereinigtes Europa, würdigt und die Aktualität vieler seiner Thesen ausgesprochen bestätigt. (Hans Wolfgang Platzer: Bronislaw Huberman und das Vaterland Europa, Ibidem Verlag 2019) Gewiss, Huberman hat vielleicht im heutigen allgemeinen Musikbewusstsein nicht die immer noch vorhandene Popularität eines Pau Casals, Enrico Caruso oder Leonard Bernstein, aber im Gedächtnisloch ist er keinesfalls verschwunden.
Szalszas größtes Verdienst ist es, viele Quellen ausführlich zu zitieren: seien es Rezensionen aus aller Welt und zu allen Phasen von Hubermans Laufbahn, seien es rare Nachrichten über das Privatleben dieses an sich scheuen, reizbaren, an quälender Schlaflosigkeit leidenden, zu Depressionen neigenden, wiederholt von gefährlichen Unfällen getroffenen Künstlers, seien es Briefwechsel mit wichtigen Musikern und einflussreichen Persönlichkeiten und natürlich seine Schriften über das Virtuosendasein ebenso wie zum Paneuropa-Komplex. Auch die zahlreichen Fotos und Reproduktionen von Brief- und Dokumentenoriginalen führen einen näher an diesen im besten Sinne des Wortes merkwürdigen Mann heran.
Einst hatte er als Wunderknabe noch vor Johannes Brahms zu dessen Begeisterung gespielt, er war mit Karol Szymanowski ebenso befreundet wie mit Wilhelm Furtwängler, allerdings nur bis zu dessen fataler Verstrickung mit dem Naziregime, mit Thomas Mann ebenso wie mit Albert Einstein. Huberman lebte in Wien und Berlin, in Paris und in der Schweiz, weilte oft in Italien und bereiste als konzertierender Solist die ganze Welt. Während des Zweiten Weltkriegs emigrierte er in die USA, nahm auch die amerikanische Staatsbürgerschaft an, kehrte aber nach 1945 schlussendlich wieder in die Schweiz zurück. Seine Aufnahmen der Kreutzer-Sonate mit dem großen polnischen Pianisten Ignaz Friedman und des Violinkonzerts von Beethoven mit den Wiener Philharmonikern unter George Szell sind bis heute Maßstab setzend, auch wenn manche Manierismen veraltet wirken, weil sie der Zeit ihrer Entstehung angehören. Aber die Konsequenz und Kompromisslosigkeit dieses Violinspiels, die Unverkennbarkeit der Tongebung und die geradezu existenzielle Ausdrucksintensität, bei der es um Leben und Tod zu gehen scheint, sind tatsächlich immer noch äußerst beeindruckend. Sein lebendigstes Vermächtnis ist das Israel Philharmonic Orchestra, das er als Palestine Symphony Orchestra nach 1933 mit aus Europa entkommenen und geflüchteten Musikern bildete. Insgesamt hat Huberman so sehr viele Verfolgte retten können.
All das berichtet Szalsza verlässlich, detailliert und mit respektvoller Zuneigung gegenüber Huberman. Man erfährt auch, dass der Geiger im Privaten sehr schwierig sein konnte, zum Geiz neigte bei gleichzeitiger Großzügigkeit, wenn es um wichtige künstlerische und politische Ziele ging.
Leider ist die deutsche Fassung, an der rund 20 (!) Übersetzer beteiligt waren, teilweise arg holprig und in vielen Details schlampig geraten. So muss der Dirigent Ferdinand Löwe hier ohne Schluss-E auskommen, wird der Dirigent George Szell auch mal als Georg Schell geführt ebenso wie der Geiger Jacques Thibaud in verschiedenen, aber falschen Schreibweisen auftaucht. Beethovens 100. Todestag 1927 verwandelt sich in seinen hundertsten Geburtstag. Der NS-Begriff „Halbjude“ wird ohne Bedenken benutzt und anderes mehr. Solche Wurstigkeiten sind bedauerlich, weil man sonst wirklich sehr viel und bisher wenig Bekanntes über diesen grandiosen Musiker in all seinen Facetten und Widersprüchen erfährt.
- Piotr Szalsza: Bronisław Huberman. Leben und Leidenschaften eines vergessenen Genies, Hollitzer Verlag, Wien 2020, 524 S., € 50,00, ISBN 978-3-99012-618-9