Arno Lücker: 250 Komponistinnen. Frauen schreiben Musikgeschichte (Die andere Bibliothek), Aufbau Verlag, Berlin 2023, 648 S., Abb., € 58,00, ISBN 978-3-8477-0023-4

Arno Lücker: 250 Komponistinnen. Frauen schreiben Musikgeschichte (Die andere Bibliothek), Aufbau Verlag, Berlin
Von Frauen, die Musikgeschichte schrieben
„Drittes Interesse“ nennen Bibliothekare ein Phänomen, das das spezielle Nutzerverhalten von Lesern beschreibt. Etwa 90 Prozent der Nutzer öffentlicher Bibliotheken wissen demnach bevor sie die Bibliothek betreten, noch nicht, was sie aus dieser mit nach Hause nehmen werden. Denn das richtet sich nach dem, was sie finden. Dieses Finden wird dadurch beeinflusst, wie Bücher in der Bibliothek präsentiert werden und in welchem Zustand sie sich befinden. Das Allerwichtigste aber ist die äußere Gestaltung des Buches – wenn diese den möglichen künftigen Leser anspricht, ist es schon fast ausgeliehen. Auch in Buchhandlungen kommt dieses „Dritte Interesse“ vor, dort heißt es „stöbern“.
Das Cover des vorliegenden Buches ist wenig sensibel bis geschäftsschädigend gestaltet. In den vergangenen gut 40 Jahren hat sich die Musikwissenschaft darum bemüht, Komponistinnen ans Tageslicht zu bringen, weil sie unter dem patriarchalischen Gedankengut der vergangenen Jahrhunderte geradezu erstickt worden waren. Gefunden wurde eine erhebliche Zahl an bemerkenswerten Frauen mit eigenständigem Denken und wunderbaren musikalischen Produktionen. Auf eigenen Beinen zu stehen – gerade auch in der Öffentlichkeit – ist ihnen lange verwehrt geblieben. Optisch ist dieses mittlerweile in vieler Hinsicht glücklicherweise überkommene Rollenbild „Männlein – Weiblein“ mit den Farben Hellblau und Babyrosa konnotiert. Mag es nun Ironie, Anti-These oder Gleichgültigkeit sein, die dem Cover dieses Buches die Farbe Babyrosa zugeordnet hat – hilfreich im Sinne des „Dritten Interesses“ ist diese Farbe keinesfalls. So findet man im Buch ganz unerwartet eine reichhaltige und vielfältige Auswahl an Komponistinnen von frühester Zeit, bis in die jüngste Gegenwart, viel „Ernste Musik“, aber auch, so Lücker, „Künstlerinnen aus anderen Genres, aus Jazz, Folk, Aktionskunst und Filmmusik“. In 250 Artikeln stellt Lücker je eine Komponistin mit einer ihrer Kompositionen (allerunterschiedlichster Besetzungen, vom kleinen Solostückchen bis hin zur großen Form und Besetzung) näher vor. Alle diese Texte waren in dieser Reihenfolge bereits im „VAN Magazin“ veröffentlicht worden, jetzt erscheinen sie alle gemeinsam als „Roman“, den man „von vorne bis hinten lesen“ kann – aber nicht muss, kein roter Faden verbindet die einzelnen Beiträge. Auf jeden Fall darf man immer wieder ein Stück unbekannter Musik kennenlernen. Denn „aufgrund vieler Jahrhunderte Ignorierens, Verhinderns, Umgehens und Beschimpfens von Musik, die von Frauen zu Papier gebracht wurde“, hat es bisher nur ein winziger Teil der Musik dieser Komponistinnen geschafft, bis an unser Ohr zu gelangen. Das ändert sich nun!

Arno Lücker: 250 Komponistinnen. Frauen schreiben Musikgeschichte (Die andere Bibliothek), Aufbau Verlag, Berlin
Lücker beruft sich bei seiner Auswahl auf die Vorarbeiten des Projekts „Musik und Gender im Internet“ der Hochschule für Musik und Theater Hamburg und dem Sophie-Drinker-Institut. Die Auswahl ist wohl auch ein wenig dem persönlichen Geschmack und Interesse des Autors geschuldet, immerhin ist die Auswahl riesengroß! – Die Musikwissenschaftlerin Eva Rieger hat einmal gesagt: „Die Konzertführer prägen die Wahrnehmung der Konzertbesucher, die ohnehin konservativ eingestellt sind. Die Musik von weißen, westlichen Männern behauptet sich weiterhin in den Konzertsälen und Opernhäusern.“ Mit Lückers Buch ist nun ein erster rein weiblicher Konzertführer auf dem Markt. Die Breite, die er hier abdeckt, kann das Thema Komponistinnen im Konzertbetriebe eigentlich nur befördern.
250 Artikel – das ist für etwa jeden Werktag eines Jahres ein neues Stück Musik. Die Artikel bestehen jeweils zunächst aus einem etwas längeren biographischen Teil, in dem Lücker – wie er schreibt – jeweils versucht habe, sich „zumindest ‚gefühlsmäßig‘ […] in das Leben, in die Zeit der jeweils Porträtierten hineinzudenken“. Dem folgt jeweils eine kurze Werkbeschreibung einer Komposition. Lücker stapelt tief, wenn er „versucht“ schreibt. Seine Umfeldkenntnis ist immens und sortiert Komponistin wie Werk in einen größeren Zusammenhang ein, zieht Parallelen zu Bekanntem und ordnet sie historisch ein. Manche seiner Fragen sind dabei durchaus trivial, zeigen aber, wie sehr basisorientiert die Komponistinnenforschung noch immer betrieben werden muss.
Über einen QR Code gelangt manauf eine Webseite, auf der alle besprochenen Kompositionen auch angehört werden können. So zeigt dieses Buch – anders als bei den berühmten Bananen – einen Bruch zwischen Cover und Inhalt, außen und innen. Wo außen Altbackenes verkauft wird, findet sich im Inneren ein äußerst interessanter, informativer, lesens- und hörenswerter Inhalt. – Empfehlung: Dieses Buch nicht mehr aus der Hand legen! Wunsch: mehr davon!
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