Den Begriff „neue wege“ führt die Schriftenreihe des in Regensburg beheimateten „Sudetendeutschen Musikinstituts“ im Titel, und besonders gut passt dieses Motto zum eben im Rahmen dieser Reihe erschienenen Band mit der Nummer 18. Er ist dem tschechischen Komponisten Alois Hába (1893–1973) gewidmet, der mit einem guten Teil seines Werks Pionierarbeit leistete und klangliches Neuland erschloss. Ursprünglich angeregt durch die Volksmusik seiner mährischen Heimat und wohl auch beflügelt durch einschlägige Gedanken in Ferruccio Busonis „Entwurf einer neuen Ästhetik der Tonkunst“ begann Hába nämlich, mit einem erweiterten Tonsystem zu experimentieren, das die gängige zwölftönige Skala um Mikrointervall-Zwischenstufen bereicherte: um Viertel- oder sogar Sechsteltöne.
Einen „verbissenen Visionär“ nennen ihn die beiden tschechischen Autoren Vlasta Reittererová und Lubomir Spurný, die als Hába-Experten gelten können: Waren sie doch mit der Sichtung und Inventarisierung seines Nachlasses beschäftigt, so dass ihnen reiches Quellenmaterial für ihre Darstellung von Leben und Werk dieses tschechischen Komponisten zur Verfügung stand. Ihr Porträt Alois Hábas mit dem Untertitel „zwischen Tradition und Innovation“ stellt ihn in den Kontext der tschechischen Musik, doch auch der internationalen Avantgarde in der Zeit zwischen den beiden Weltkriegen. Selbst während der kommunistischen Ära der Tschechoslowakei ab 1948 konnte Hába anscheinend ungehindert weiterwirken (als Konzession an die herrschende Ideologie des „sozialistischen Realismus“ schrieb er damals einige „Massenlieder“): galt Hába doch nach wie vor als international renommiertes Aushängeschild der zeitgenössischen tschechischen Kultur.
Vielfältig sind die Aspekte, welche die beiden Autoren in ihrer circa 230 Textseiten umfassenden Monographie entfalten, der noch ein Werk- und ein Schriftenverzeichnis des Komponisten sowie eine umfangreiche Liste von Sekundärliteratur folgen. Reittererová und Spurný wenden sich zunächst Hábas frühen Kompositionsversuchen zu und beleuchten seine Studienzeit bei Franz Schreker in Berlin, dann spüren sie seiner anthroposophischen Gesinnung im Geiste Rudolf Steiners nach und schildern seine Vision einer „Musik der Freiheit“ ohne formale Fesseln und feste, wiederkehrende thematische Gestalten.
In weiteren Kapiteln werden Hábas Schüler und Mitarbeiter dokumentiert und seine musiktheoretischen Schriften ins Auge gefasst, darunter vor allem die „Neue Harmonielehre“ von 1927, die teils in Nähe, teils in Distanz zu Arnold Schönbergs älterer „Harmonielehre“ aus dem Jahre 1911 steht. Weiter geht es um Hábas Kontakte mit Erfindern und Instrumentenbauern bei der Entwicklung von Vierteltoninstrumenten, speziell eines Vierteltonklaviers, das in Zusammenarbeit mit der sächsischen Firma August Förster entstand.
Was Hábas Werk betrifft, so werden vor allem dessen drei Opern ausführlicher gewürdigt, wobei nur deren erste, die Vierteltonoper „Die Mutter“ zu Lebzeiten des Komponisten auf die Bühne gelangte, und zwar im Jahr 1931 unter Leitung von Hermann Scherchen am Münchner Gärtnerplatztheater, was höchst bemerkenswert ist: galt es doch, immense aufführungspraktische und, in Zeiten der Weltwirtschaftskrise, finanzielle Schwierigkeiten zu überwinden, um die Aufführung zu realisieren. Mit seinen beiden weiteren Opern „Das neue Land“ (1936 in traditionellem Halbtonsystem geschrieben) nach einem Stoff sowjetischer Herkunft und der anthroposophisch geprägten Mysterienoper „Dein Reich komme (Die Arbeitslosen)“ von 1942 im Sechsteltonsystem hatte Hába weit weniger Glück. Die Erstere erlebte erst im Jahre 2014 ihre (halbszenische) Uraufführung, die Letztere wurde erstmals 2018 vorgestellt.
Bleibt die Frage nach der Wirkung von Hábas Werken bei Zeitgenossen wie Nachgeborenen. In diesem Punkt erhält der Leser dieses Bandes umfängliche Auskunft, denn Reittererová und Spurný zitieren in ihrer Darstellung ausführlich die jeweiligen Presse-Echos. Spannend zu lesen ist, wie sich die Reaktionen der Kritiker hier zwischen vorsichtiger Anerkennung bewegen, gemischt mit Skepsis, respektvoller Distanz und unverhohlener Ablehnung: von bloßer „theoretischer Spielerei“ ist da die Rede oder von „Experimenten musikalischer Handwerker“, die nichts mit Kunst zu tun hätten.
Und wie steht es um das Weiterleben von Hábas Musik in der heutigen Musikpraxis? Die beiden Autoren sind hier selbst skeptisch, wenn sie dessen Werk abschließend im Kontext vielfältiger auch anderweitiger Bemühungen um eine „ekmelische Musik“ betrachten (welche das traditionelle Zwölftonsystem um Mikrointervalle bereichert). Diese habe „nach einer anfänglichen Welle der Begeisterung“ in den achtziger und neunziger Jahren des vorigen Jahrhunderts „eine Phase der Abkühlung und wachsender Indifferenz“ durchlaufen: „Gegenwärtig erweckt diese Art von Musik kaum das Interesse größerer Hörerschichten und ist wesentlich auf Expertenkreise beschränkt“.
- Vlasta Reittererová/Lubomir Spurný: Alois Hába (1893–1973). Zwischen Tradition und Innovation (neue wege – nové cesty: Schriftenreihe des Sudetendeutschen Musikinstituts, Bd. 18), ConBrio, Regensburg 2021, 292 S., Notenbsp., € 29,90, ISBN 978-3-940768-95-7