Victor Henle: Richard Wagners Wörter Lexikon. Kaysersche Verlagsbuchhandlung, Berlin/München 2011, 288 S., € 24,90, ISBN 978-3-86886-019-1
„Zu schauen kam ich ...“ „Der Ring des Nibelungen“ an der Oper Frankfurt 2010–2012. Fotografien von Monika Rittershaus. Texte und Dokumente zur Inszenierung, Henschel, Leipzig 2012, 160 S., € 19,90, ISBN 978-3-89487-693-7
In Zeiten drastisch verfallender musischer und literarischer Bildung entrückt auch die Sprache des Künstlers zunehmend dem Verständnis. Dies gilt insbesondere für Richard Wagners sprachliche Formung seiner dem Alltag und dem Opernbetrieb gewollt enthobenen Musikdramen: Mythen als zeitlose Basis, Kostümierung in Sagen und Epen gegen die dominierende Effizienz-Sprache der Industrialisierung, Freude an künstlerischen Neologismen und Sprachspielen, Nutzung poetischer Stilfiguren. Der 149 Seiten umfassende Lexikon-Teil von Victor Henles Buch ist daher grundsätzlich zu begrüßen, auch wenn leider die drei Frühwerke fehlen. Da wird von „Aar“ über „Abgesang“ bis zu „Zwergenfron“ und „Zwicker“ nahezu alles Ungewohnte und Fremde erklärt. Selbst der erfahrene Wagner-Freund kann da noch zusätzliche Aspekte und ethymologische Bezüge entdecken. Dabei formuliert Henle sprachlich klar und auf den „normalen“ Musikfreund bezogen: Die Erläuterung bettet die kursiv gesetzte Phrase Wagners in die Sprachgeschichte sowie den Werk- oder Szenenzusammenhang ein. Dabei fließen gelegentlich Urteile Henles ein – und da beginnt das Problem.
Henles Literaturverzeichnis macht es dann deutlich: Thomas Mann ist sein zentraler Bezugsautor. Der diesbezüglich Wagner-affine Philologe Borchmeyer, die unverzichtbaren Wagner-Autoren Bermbach, Friedrich, Vaget, Friedländer: Fehlanzeige. Deren „Wagner-Horizont“ fehlt Henles gut 50 Seiten mit kleinen Studien zu Wagners Sprache, erst recht den über 70 Seiten „Wagners Szenarien“. Speziell hier wären Inhaltsangaben zu wünschen, die dem heutigen dramaturgischen und szenischen Interpretationsniveau Rechnung tragen, dem Wagner-Neuling die zeitlose Modernität der Musikdramen aufschließen, statt so wenig über Reclam-Textheftchen hinauszugehen. Floskeln wie „das Verdorren der Weltesche“ sei „eine Vorausdeutung auf heutiges Waldsterben“ oder Beckmesser vertrete den „‚mainstream‘ des Meistergesangs‘ wirken da nur effektheischerisch. Ein kritisches Lektorat hätte nicht nur etliche Druckfehler beseitigen sollen, sondern auch korrigieren müssen, dass etwa der Riese Fafner sich einmal durch den Ring, ein andermal – und richtig – durch den Tarnhelm in einen Drachen verwandelt. Also: Henles Lexikon-Teil ja, zu den Werken sei aber einzig der überragende, nur 128 Seiten umfassende Werkführer von Sven Friedrich empfohlen: eine glänzende Studie für jede Tasche, pausengeeignet, auf dem „Wagner-Niveau“ des 21. Jahrhunderts (vgl. Rezension in der Mai-Ausgabe der nmz, Seite 43).
„Zu schauen kam ich …“ – mit diesem Halbsatz Wotan-Wanderers betitelt die renommierte Theaterfotografin Monika Rittershaus ihren Doku-Band über Wagners „Ring des Nibelungen“ an der Oper Frankfurt. Ihr ist gelungen, viele der eindringlichen, ja bewegenden Momente der vier Abende im Bild zu bannen. Einziges „Manko“: Die unvergesslichen dreieinhalb Minuten „Weltwerdung“ zu Beginn des „Rheingold“ müssten als kleines Video beigegeben sein – Jens Kilians ingeniöse Weiterentwicklung der Bayreuther Weltenscheibe tauchte aus dem Dunkel auf und Bibi Abels unprätentiöses Video fügte Wasser als Lebensquell hinzu. Kilians gegen- und miteinander dreh-, heb- und senkbare Welten-Ringe erweisen sich auch im Foto als fabelhaft wandelbares Einheitsbühnenbild, in dem Vera Nemirova reale wie surreale Spielzüge gestalten konnte. Szenen-Totale wie Ausschnitte wechseln. Das Frankfurter Leitungsteam hat gehaltvolle Texte beigesteuert. Ex-Oberbürgermeisterin Petra Roth outet sich als Gegenbeispiel zur dominierenden Hochkultur-Ferne heutiger Politiker. Ergebnis: ein Buch als gedanklich-visuelles Vergnügen.