Seit 2008 gibt es eine Deutsche Gesellschaft für Psychoanalyse und Musik mit Sitz in Karlsruhe; ihr gehören derzeit etwa 70 Mitglieder an, in der Mehrzahl Wissenschaftler und Praktiker aus dem Bereich der Psychoanalyse. Auf mehreren Symposien wurde seitdem versucht, Gemeinsamkeiten und „Schnittstellen“ zwischen den in Struktur und Fragestellung so unterschiedlichen Bereichen Musik und Psychoanalyse auszuloten.
Ähnlich wie in der Medizin sehen auch Analytiker über die Musik große Chancen, Krankheiten ihrer Patienten zu ergründen und besser als nur in der sprachlichen Analyse zu verstehen. Es geht um Prozesse von Verlust und Wiedergewinnung des Lebensgefühls, um die Diskussion menschlicher Konfliktsituationen, die durch Musik viel tie-fer ausgelotet werden können, da eben Musik – eine uralte Erfahrung und immer wieder staunenswerte Tatsache – die Menschen emotional zutiefst, ja viel stärker als jede andere Kunst bewegen kann.
Das erste Symposion der Vereinigung, das im Herbst 2009 in Karlsruhe stattfand, stand unter dem Thema „Der Tod und das Mädchen“. Die acht hochkonzentrierten Beiträge, teils von Analytikern, teils von Musikwissenschaftlern, liegen jetzt als Sammelband vor und vermitteln gerade bei dem von Schubert entliehenen Thema einen guten Einblick in die Zusammenhänge zwischen Musik und Psychoanalyse.
Das Buch vermag auch bei Lesern, die mit psychoanalytischen Fragestellungen nicht ohne weiteres vertraut sind, Verständnis für Zusammenhänge und Überkreuzungen zu wecken, da es das Thema anhand konkreter Beispiele abhandelt (wobei man hinzufügen möchte, dass es sich bei den Analytikern auch um kenntnisreiche Musikfreunde handeln muss).
Dass gerade die Musik Franz Schuberts als „Aufhänger“ gewählt wurde, ist kein Zufall. Für Schubert, so der Musikwissenschaftler Thomas Seedorf, war der Tod das zentrale Lebensthema.
Die affektive Wirkung von Musik, die Seedorf hier konstatiert, sehen andere Autoren bei Musik generell: Musik, so der Analytiker Hannes König, spricht unsere Affekte an, „stellt eine emotionale Verbindung zu uns her, tritt mit unserem Unbewussten in Kontakt und löst Prozesse aus, die nicht mehr bewusst steuerbar sind“.
Als weitere Beispiele werden Verdis „La Traviata“, „Salome“ von Richard Strauss und Richard Wagners „Walküre“ behandelt. Gerade das in „Salome“ überdeutliche Todesmotiv wird durch Musik ebenso dramatisch dargestellt wie am Ende durch sie überwunden (in Salomes berührender Schlussarie). Die Musikwissenschaftlerin Sabine Ehrmann-Herfort zeigt am Beispiel „Totentanz“ den Wandel, den dieses Motiv seit dem Mittelalter (als „memento mortis“) bis in die Musik der Gegenwart (Honegger, Martin, Distler, Reimann) erfahren hat, in der es ganz generell als Gleichnis für Tod und Vergängnis steht. Der umfangreichste Beitrag schließlich gilt dem Jazz, genauer: dem Free-Jazz, dessen ungebundene Improvisation und Interaktion Abbilder für zwischenmenschliche Beziehungen, wie sie für die Psycho-analyse von zentraler Bedeutung sind, darstellen.
Man stehe in dem Themenfeld am Anfang, sagt Herausgeber Sebastian Leikert, Psychotherapeut in Karlsruhe. Gleichwohl freue er sich, diesen Band „mit einem großen Reichtum an Perspektiven“ vorlegen zu können. Vermutlich, so hat man den Eindruck nach der Lektüre, ist die Musik der stärker gebende Teil, da sie gleichsam aus sich selbst heraus, ohne vorherige Analyse, zum Inneren des Menschen vorzudringen vermag. Ein stärkeres Bewusstsein für ihr Potentials bei der therapeutischen Analyse zu entwickeln, mag aber auch für den Umgang mit der Musik von Nutzen sein.
Sebastian Leikert (Hrsg.): Der Tod und das Mädchen. Musikwissenschaft und Psychoanalyse im Gespräch, Psychosozial-Verlag, Gießen 2011, 178 S., € 19,90, ISBN 978-3-8379-2146-5