Hauptbild
Cage komplett: Steffen Schleiermacher. Foto: www.schleiermacher-leipzig.de
Cage komplett: Steffen Schleiermacher. Foto: www.schleiermacher-leipzig.de
Hauptrubrik
Banner Full-Size

Cage komplett: Steffen Schleiermacher als kongenialer Sachwalter des Klavierwerks

Publikationsdatum
Body

Achtzehn Stunden John Cage sind achtzehn Stunden John Cage sind mehr als achtzehn Stunden John Cage. Die Einspielung des kompletten Klavierwerks ist die Chance, den zum 100. Geburtstag beinahe totgefeierten Komponisten nun nicht in die Vergessenheitsecke zu legen. Sondern 18 CDs in den Player. Eine nach der anderen. Aber bitte mit Pausen.

18 CDs mit Musik von John Cage ohne Momente der Ruhe wären nicht Musik von John Cage. Die Zeiten der Stille in seinem Werk sind legendär. So auch in dieser Einspielung seines gesamten Klavierwerks. Der Leipziger Pianist und Komponist Steffen Schleiermacher hat sich der damit verbundenen Mühen allem Anschein nach gern unterzogen, mit unendlicher Geduld und gründlicher Hingabe. Die „ruhigste“ Musik von John Cage, sein mythenumranktes Stück „4:33“ fehlt allerdings in dieser Gesamteinspielung. Es wäre auch müßig, viereinhalb Minuten vollkommener Stille auf Tonträger zu bannen.

Aber wie naturhaft ruhig Schleiermacher etwa das Frühwerk auffächert, die vorrangig dem Tanz geweihten Stücke für präpariertes Klavier, deren Rhythmik sich aus Schlagwerkersatz wie Schrauben und sonstigen Fertigstücken ergibt, das macht vor Staunen – schweigen. Der 1960 in Halle geborene Interpret suchte vor allem nach gangbaren Wegen, die von Cage nur vage gesetzten Grenzen der Präparationen auszuloten. Erst in dieser Balance ergibt sich der Wert aus teils banalem Fingersatz und ergiebigem Höreindruck. Das Schematische vor allem im schon zeitig von austastendem Suchen geprägten Schaffen der 1940er Jahre bedient Schleiermacher eindringlich schemenhaft. Stets scheint er mit dem Wissen ans Instrument zu gehen, dass diese Musik auch hätte anders ausgeführt werden können.

Deutlicher wird das in der Mitte der 50er Jahre entstandenen „Music for Piano“, die in dieser betont vorsichtig tastenden Variante nur einen Herangehensweg fand. Allerdings einen überzeugenden, weil gründlich durchdachten. Steffen Schleiermacher nimmt sich die Freiheiten, die John Cage den Interpreten seiner Konstrukte gegeben hatte. Wer klug ist, bleibt in diesem Rahmen, lotet ihn aus ohne ihn auszunutzen. Schleiermacher ist klug und geht ganz behutsam an diese Grenzen. Überhaupt scheint er sich bei jeder einzelnen Nummer des Gesamtwerks bewusst gewesen zu sein, so homogen sind diese 18 CDs gelungen.

Da ihnen Kompositionen aus einem Schaffenszeitraum von rund einem halben Jahrhundert zugrunde liegen, ist dies umso bemerkenswerter. Der Mix aus Konzeptionellem und Zufälligkeit, die Systematik philosophischer Grundlinien im nur scheinbaren Gegensatz zu experimenteller Offenheit – all das dürfte Schleiermacher bei seinen Einspielungen verinnerlicht haben. Er wahrt eine grundsätzliche Treue gegenüber dem ihm offenkundig als Idol dienenden Altmeister. Und Treue zu Cage muss wohl zwangsläufig mit distanzierter Freiheit verbunden sein.

In den kurz vor Kriegsende entstandenen Stücken für zwei Klaviere, „Two Pianos“, assistiert Josef Christof, für das erst 1991 verfasste „Four“ – von Cage so altersweise wie bewusst absolut freizügig belassen – hat Schleiermacher den Geiger Andreas Seidel herangezogen. Der hauseigenen Philosophie des Detmolder Labels Dabringhaus und Grimm entsprechend sind die Aufnahmen frei von nachträglichen Manipulationen geblieben, also weitgehend in der natürlichen Akustik des jeweiligen Konzertraums gehalten.

Die Empfehlung, nicht gleich alle 18 CDs am Stück anzuhören, steht nicht im Widerspruch zu den mit dieser opulenten Edition einhergehenden Risiken und Nebenwirkungen: Man kommt unweigerlich auf den Geschmack an John Cage. Und zwar völlig unabhängig von dessen Jubiläum im Jahr 2012.

So wird man die maschinenhafte Rhythmik in „Three Dances“ von 1944/45 staunend genießen können, lauscht überrascht den diversen „One“-Versionen und erhört John Cage in seinen „Pieces“ aus den Jahren 1933 bis 1950 immer wieder als einen sehr „tänzerischen“ Komponisten. Und als einen mit Witz! Denn die anklingenden Adaptionen von Beatles-Songs zeigen nicht nur Cage als wachen Beobachter, sondern auch Schleiermacher als hintergründigen Spaßmacher, der das auf den ersten Blick so Unvereinbare mit hörbarer Spielfreude zusammenbringt. Ähnlich gelungen ist dies auch in der „Hommage à Satie“ sowie in einer frühen Jazz-Studie.

Ansonsten: Ruhe. Viel Ruhe, sogar viel sortierende Stille. Dem Altmeister der Moderne lag sehr an Strukturen, an Schemen, die genau entschlüsselt und wissend transportiert wurden. Steffen Schleiermacher erweist sich als kongenialer Sachwalter des opulenten Klavierwerks. Er geht nie vordergründig virtuos in diesen Einspielungen an die Klangräume von Cage heran, stattdessen lässt er den Tönen Luft, wagt Risiken, ohne sich jedoch so weit aus dem sprichwörtlichen Fenster zu lehnen, dass eine Cage-Phrase überdehnt oder gar zerrissen würde. Eine Fleißaufgabe des Interpreten? Nein, ein Bekenntnis.

Wer nun meint, mit diesem auch editorischen Wagnis wäre das Cage-Jahr endgültig vorüber, sieht sich angenehm getäuscht. Stichwort „ASLSP“. Hinter diesen Buchstaben steht bekanntlich „as slow as possible“, bei Schleiermacher sind es beachtliche 16 Minuten und 45 Sekunden, in denen er sich mit diesem passenderweise von Joyce-Lektüre angeregten Werk beschäftigt. Man sollte das Experiment unternehmen, sich mit diesem Höreindruck in die St.-Buchardi-Kirche in Halberstadt zu setzen. Dort währt das sowohl für Piano als auch für Orgel angelegte Werk ganze 639 Jahre. Ein Dutzend davon ist schon verklungen.

Weiterlesen mit nmz+

Sie haben bereits ein Online Abo? Hier einloggen.

 

Testen Sie das Digital Abo drei Monate lang für nur € 4,50

oder upgraden Sie Ihr bestehendes Print-Abo für nur € 10,00.

Ihr Account wird sofort freigeschaltet!