Estonian Sound Recordings 1939 (12 CDs; Vertrieb: eres edition, Bremen)
Das heutige Estland ist eine weltweit führende Musiknation mit einer grandiosen Chorgesangstradition, weltbekannten Dirigenten und vor allem großen Komponistenpersönlichkeiten, unter denen Heino Eller, Eduard Tubin, Veljo Tormis, Arvo Pärt, Lepo Sumera oder Erkki-Sven Tüür weltweit hochangesehene Namen sind. Doch erst vor gut hundert Jahren ist das Land aus dem Dornröschenschlaf erwacht – man entdeckte und sammelte das wertvolle Folkloregut, worunter die uralten Runo-Gesänge besonders zeitlosen Reiz besitzen, und begann, es kompositorisch zu nutzen und mit dem Handwerk deutsch-romantischer, russischer und impressionistischer Provenienz zu fusionieren. Zwischen den Weltkriegen gab es allerdings keine estnische Plattenfirma, die sich der Dokumentation zumal des ambitionierteren Schaffens angenommen hätte, und bis in die dreißiger Jahre auch kein wirklich hochklassiges großes Orchester.
Als der estnische Staat 1939 beschloss, eine umfassende Anthologie des musikalischen Schaffens in den Bereichen der Orchester-, Kammer-, Klavier-, Chor-, Lied- und Bühnenmusik aufnehmen zu lassen, hatte sich die Situation bereits grundlegend verändert: Zwar musste das Staatliche Rundfunkorchester teilweise aufgestockt werden, doch ist das Level absolut auf internationalem Niveau. Und man griff „in die Vollen“ und gab mehr als 150 Stücken die Chance, via Tonträger weite Verbreitung zu finden – ein umfassendes Projekt, das zu jener Zeit einmalig war und in der jetzigen Aufbereitung vier CDs mit Orchestermusik, drei mit Chormusik (gemischt, Männer- und Frauenchöre, begleitet und a cappella), je zwei mit Kammer- und Klaviermusik sowie je eine mit Liedern und Opernarien, mit Schlagern und Operettenarien, mit Blaskapellen und begleitenden politischen Reden umfasst. Zu einer Veröffentlichung dieser einmaligen Kompilation, ausgeführt von den besten estnischen Musikern der Zeit, ist es nicht einmal teilweise gekommen: Die Matrizen wanderten nach England zu His Master’s Voice, wurden dort irgendwann ausgesondert und der Universitätsbibliothek im dänischen Århus überstellt und dort erst vor wenigen Jahren lokalisiert. Claus Byrith hat die korrodierten Metallplatten mit aufwändigsten Verfahrensweisen in subtilster „Tonmeisterschaft“ in die digitale Klangwelt übertragen und ein unfassbares Wunder vollbracht: Der ganze Reichtum des authentischen Musizierens in all seinem unwiederbringlich nuancenreichen, intensiven Ausdruck erblüht machtvoll vor dem Hörer und fasst ihn unmittelbar am Herzen. Wo wäre heute noch solch innig kraftvoller Chorgesang zu hören? Wie lebendig und fein war die Tradition der leichten Muse! Was für ein wunderbarer Pianist war der Cortot-Schüler Olav Roots, der auch als Dirigent herausragt!
Jedes einzelne Dokument ist ein Juwel, und ich möchte betonen, dass es hier nur am Rande um Nostalgie gehen kann: Von diesen Aufführungen können wir lernen, was uns verloren gegangen ist und was eine heutige junge Generation von Musikern wieder zu erobern sich anschicken sollte – höchste Gestaltungskultur ohne Glätte, feurig, sublim, auf jeder Ebene präsent. Die großen estnischen Komponisten der Zeit sind alle mehr oder weniger reich bedacht, und viele, deren Namen man heute kaum noch kennt. Da die damaligen Platten höchstens drei bis viereinhalb Minuten Spielzeit hergaben, sind kaum umfangreichere Werke dabei, die längsten sind das Klaviertrio es-Moll von Eugen Kapp, Artur Lembas romantisch ausladendes erstes Klavierkonzert (mit dem Komponisten selbst als Solisten) und die zwei letzten Sätze von Artur Kapps monumentaler ersten Symphonie. Eduard Tubin ist mit frühen Stücken dabei, und sein Lehrer Heino Eller mit jenen zwei zauberhaften frühen Tondichtungen, die man bis heute am meisten spielt: „Koit“ (Morgendämmerung) und „Videvik“ (Abenddämmerung), und hier kann man ebenso wie beispielsweise in den herrlichen Chorwerken von Rudolf Tobias, Cyrillus Kreek oder Gustav Ernesaks (um nur ein paar zu nennen) eintauchen in eine ferne Welt, die plötzlich so nahe scheint, als sei sie eben gestern gewesen, denn: Das Re-Mastering ist mehr als sensationell, es klingt besser als viele westliche Rundfunkaufnahmen der sechziger oder sogar siebziger Jahre!
Und das Ganze ist nicht einfach eine 12-CD-Box, nein, es ist ein eigenwillig gestaltetes Buch von über 300 Seiten, wo man alles Wissenswerte zu Geschichte, Komponisten und Musikern, Aufnahmen und Restauration, spannend und akribisch zusammengetragen, auch auf Englisch erfährt. Eine grandiose Edition, die für praktische Musiker, die ihren Horizont erweitern wollen, ebenso unentbehrlich ist wie für die Liebhaber und Sammler alter Aufnahmen oder seltenen Repertoires, und die aufgrund des wunderbaren Klangbilds und der leichten Zugänglichkeit der Musik auch jedem „normalen Hörer“ empfohlen werden kann.