Die polnische Musik von der Zeit Karol Szymanowskis (1882–1937) bis zur mit Witold Lutoslawski (1913–94) und Andrzej Panufnik (1914–91) einsetzenden Moderne ist international recht unterbelichtet geblieben. Sieht man einmal von Mieczyslaw Karlowicz und Alexandre Tansman ab, so dürfte ein Namensquiz nur bei beschlagenen Kennern Wiedererkennungswerte wachrufen. Das ist, wie in so vielen Fällen, ein guter Grund, sich eingehender umzusehen, und für Frank Harders-Wuthenow, spiritus rector eines aufsehenerregenden Festivals für polnische Musik in Berlin 2004 und mit immensem Wissen aufwartender Autor der Booklettexte dieser beiden CDs, war dies der Anlass zu einer editorischen Großtat, deren musikalische Umsetzung er in die bewährten Hände von Jürgen Bruns, dem Leiter der Kammersymphonie Berlin, legte. Harders schreibt die Musikgeschichte nicht um, aber er fügt ihr wichtige Informationen aus Bereichen hinzu, die unserer Aufmerksamkeit entgangen sind. Er schenkt uns dabei einige wertvolle, bereichernde Entdeckungen.
Poland Abroad Vol. I: Streichorchesterwerke von Alexandre Tansman, Simon Laks, Jerzy Fitelberg und Mieczyslaw Karlowicz. Jürgen Bruns dir. Kammersymphonie Berlin.
Edition Abseits EDA 26
Poland Abroad Vol. II: Symphonische Dichtungen von Grzegorz Fitelberg, Eugeniusz Morawski, Simon Laks und Alexandre Tansman. Klaudyna Schulze-Broniewska (Violine), Jürgen Bruns dir. Brandenburgisches Staatsorchester. Edition Abseits EDA 27 (Vertrieb: Klassik-Center)
Das Streichorchester-Repertoire etwa wird um drei sehr spielfreudige, auf der Höhe der Zeit stehende Werke neoklassizistisch inspirierten Zuschnitts ergänzt: den agilen, handwerklich bestechenden „Triptych“ (1930) von Alexandre Tansman (1897–1986), das mit pfeffriger Dissonanzfreude animierende, motorisch fesselnde „Concerto“ (1928) vom jungen Jerzy Fitelberg (1903–51) und, als besonders einnehmendes, vielseitig funkelndes Juwel, die „Sinfonietta“ (1936) von Simon Laks (1901–83), in der auf besonders kunstvolle, beherzt innige Weise traditionelle, ja volkstümlich anmutende Elemente und lange melodische Entfaltung (Serenade, un poco adagio!) in eine schmucke, klar artikulierte Form gebracht werden. Nicht zu verachten ist auch der verschlagene Humor, der den Hörer immer wieder bezaubert. In diesem Kontext wirkt das einzige bekanntere Stück, die frühe Serenade op. 2 (1897) von Mieczyslaw Karlowicz (1876–1909), in ihrer Robert Volkmann’schen Biedermeierlichkeit bei allen unbestrittenen Qualitäten doch etwas harmlos.
Einen imposanteren Eindruck hinterlassen natürlich rein äußerlich die groß besetzten symphonischen Dichtungen, welche die zweite CD offeriert. Die herkömmlichste Sprache spricht hier der bedeutende Dirigent Grzegorz Fitelberg (1879–1953) in seinem „Gesang des Falken“ (1905), in dem sichere und sinnliche Orchesterbehandlung und ein impressionistisch getöntes spätromantisches Idiom den Ohren schmeicheln. Eugeniusz Morawski (1876–1948) ist als Komponist eine individuell ausgeprägte, fantasiemächtige Persönlichkeit. Seine 1911 in Paris entstandene Tondichtung „Nevermore“ fesselt mit pathetisch visionärem Grundduktus, der an die jüngsten Errungenschaften Richard Strauss’ und Gustav Mahlers anknüpft. Es ist ohnehin ein hochdramatisches Werk, und als die organische Ausschöpfung der kontrastierenden Elemente bereits den maximalen Spannungspunkt überschritten zu haben scheint, kommt es plötzlich noch zu einer gewaltigen Übereinandertürmung opponierender Vektoren, die in ihrer den zuvor abgeschrittenen Raum aufreißenden Wirkung eine mahlernahe, die Fesseln sprengende Dimension erschließt. Höchst faszinierend und bestrickend in der Ausarbeitung der feinen Details und der überraschend weiträumig sich ausfaltenden Form ist das solistisch dankbare „Poème für Violine und Orchester“ (1954) von Simon Laks – nun also dem ins kommunistische Joch gezwungenen Nachkriegspolen entronnene Musik, die in ihrer zeitlosen Intimität und erlesen changierenden, subtilen Verknüpfungskunst im zeitgleich lautstark einsetzenden Rummel um die neuesten Errungenschaften der Moderne viel zu wenig Beachtung gefunden hat. Zum Schluss schließlich ein in seiner reich schattierten Nüchternheit und fast etwas kühlen Raffinesse vom ersten bis zum letzten Ton (vor allem in den langsamen Außensätzen) mit erlesener Originalität in Bann ziehendes Meisterwerk von Alexandre Tansman: die 1968 bis 1969 komponierte „Hommage à Erasme de Rotterdam“, die Harders im Begleittext zu folgendem Fazit veranlasst: „Die goethische Idee einer Einheit von Charakter, Biographie und Werk – ‚geprägte Form, die lebend sich entwickelt‘ – findet sich in der Struktur der Komposition reflektiert, der Name Erasme wird nicht nur im ideellen, sondern auch im buchstäblichen Sinne zum Programm.“ Dies die abgeklärte Haltung eines kosmopolitisch erfahrenen, aus der strawinskyschen Tradition zur Eigenart erwachsenen Komponisten, der es schon lange nicht mehr nötig hat, seine Stücke mit Zeitgeist-Konzessionen zu garnieren. Die Aufführungen sind mit gebührender Sorgfalt und Engagement einstudiert und lassen uns gespannt abwarten, was die Berliner Edition Abseits uns in Zukunft noch an verborgenen Schätzen enthüllen wird.