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Das Vermächtnis der Cuckoo-Cocoon-Ritter

Untertitel
Akademisches Klassendenken verschmilzt mit rockiger Lust: DVD-CD-Box feiert Genesis der 70er-Jahre
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Genesis: 1970–75 (7 SACD + 6 DVD); Virgin/EMI CD BOX 14

Die erste Hälfte der 1970er-Jahre war von den Kultbands des aus dem Flo-wer-Power-Dünger aufblühenden Art- und Progressive-Rock geprägt wie keine spätere. Bands wie King Crimson, Van der Graaf Generator, Yes, Emerson Lake & Palmer, Gentle Giant, Caravan oder Gong waren schnell emporgekommen – und natürlich Genesis, formiert um den Sänger Peter Gabriel. Hier werden erstmals in einer Box sämtliche Stücke der Gabriel-Genesis zwischen 1970 und 1975 vorgestellt. Es handelt sich um eine sehr geschmackvoll im mittlerweile „klassischen“ Dream-Design ausgestattete grüne Kiste, die neben den fünf offiziellen Alben – heute allesamt Kult: Trespass, Nursery Cryme, Foxtrot, Selling England by the Pound, The Lamb Lies Down on Broadway – eine Extra-CD mit Raritäten enthält, unter denen zwei besonderes Interesse beanspruchen dürfen:

Die so genannte Jackson-Suite von 1969 mit Musik zu Fritz Langs Stummfilm „Metropolis“ ist zu einem guten Teil ein Sammelsurium von Ideen, die später zur Auswertung kamen und hier in einem Embryonalstadium beobachtet werden können; und dann das lang erwartete „Twilight Alehouse“, einer der schönsten und legendenumwobensten Genesis-Titel, der unbegreiflicherweise bisher nur auf einem lange vergriffenen LP-Sampler „The Famous Charisma Label“ erschienen war. Alleine dieses märchenhafte Stück ist für jeden wahren Genesis-Liebhaber die Anschaffung dieser Box wert, die mit gehörigem Luxus aufwartet: Alle Alben sind sowohl als SACD als auch als DVD enthalten (Audio + Interviews etc.). Wie erscheint nun, rückblickend, die Stellung und Entwicklung der legendären Genesis?

Mit ihrem ersten Album „Trespass“ (1970) treten sie aus dem Schatten von Peter Hammills Van der Graaf Generator hervor, bei noch sehr deutlichen Anklängen im hypnotisch-träumerischen Tonfall und Drama. Zugleich hat „Trespass“ eine unschuldige Sentimentalität, die später in dieser Form nicht mehr auftaucht. „Nursery Cryme“ (1971) ist der kraftvolle Schritt in die unverwechselbare Identität, mit raffiniert-mächtigen, bildreich verrätselten Statements wie „The Musical Box“ oder „The Fountain of Salmacis“. Mit „Foxtrot“ befinden wir uns im Zentrum des Erfolgs von Gabriels Genesis, in einer architektonisch weiträumig geplanten, klassizistischen Rock-Symphonie rund um die assoziationsreich blühende poetische Fantasielandschaft von „Watcher of the Skies“ über „Get’em out by Friday“ bis zum Grand Finale „Supper’s Ready“.

Es ist eine idyllisch verspielte Musik, die auf unverwechselbare Art akademisches Klassikdenken mit rockiger Lust verschmilzt, was in „Selling England by the Pound“ seinen Höhepunkt erreicht. Anders als die weit progressiveren Konkurrenten King Crimson oder Van der Graaf vermitteln Genesis neben allem konstruktiven Anspruch ein Elixier, das weit mehr Hörer unmittelbar begeisterte: die Wellness, ein Gefühl von Blumenkinder-Geborgenheit und „alles wird gut“. Da mögen die Texte oft noch so selbstkritisch und erregt sein, die Musik bietet bei aller Bildhaftigkeit emotionalen Halt, und „Selling England“ ist in seiner Mannigfaltigkeit das leuchtendste Beispiel für diese identifikatorische Qualität.

Danach kommt das aus vielen kleinen Mosaiksteinchen zusammengesetzte Konzept-Doppelalbum „The Lamb Lies Down on Broadway“, in dem sich schon der Wandel zur neuen Genesis ankündigt, wenngleich Gabriel auch hier mächtig das Sprachruder in der Hand hält und „In the Cage“ in zeitloser Art-Rock-Manier die illusionsvernichtenden Verse verkündet: „If I keep self-control, I’ll be safe in my soul. And this childhood belief brings a moment’s relief, but my cynic soon returns and the lifeboat burns. My spirit just never learns.“

Wer die 70er verstehen will, ist mit dieser Kultkiste ebenso gut bedient wie die Fans, die dafür sorgten, dass die erste Auflage schon nach wenigen Tagen vergriffen war.

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