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Eher reinhören als hinfahren

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Wie sich neue Pop-Platten auf dem Markt der Livekonzerte spiegeln ·
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Der Open-Air-Sommer kommt. Bald wüten die Heiligen der Popwelt wieder auf den überteuert gesponserten Bühnen (Rolling Stones, Guns’n’Roses, Bon Jovi uvm.). Die wahren Mächtigen jedoch veröffentlichen unaufgeregt Alben, geben gerade drei (Red Hot Chili Peppers) Konzerte oder gar nur ein Gastspiel (Pearl Jam) in Deutschland. Der Tipp für diesen Sommer: siehe Titel.

Die allerletzten Rocker aus Seattle bleiben Pearl Jam. Die Mannen um Sänger Eddie Vedder verabschieden sich polternd und final von Grunge mit ihrem achten Studioalbum „Pearl Jam“. AC/DC Riffs, U2 lastige „Delay“- Gitarren, Refrains mit Gruppenzwang- Atmosphäre, Punkmusik. Dazu ein aufbrausender Sänger, der cholerisch sein darf, aber bei den obligatorischen US-Balladen sein weltberühmtes Timbre zum Zittern bringt. Ein Richtwert für kommende Generationen.

Weitere Helden mit neuem Album sind die Red Hot Chili Peppers. „Stadium Arcadium“ tauften sie gnädig ihr Doppelalbum mit 28 Songs. Ein Album, das jedoch Selbstüberzogenheit mehr als verdient. Zum Funk zurück sind sie gekehrt. Geleitet vom grandiosen Gitarristen John Frusciante, dessen mittlerweile zehn Soloalben deutliche Einschläge auf die Musik der RHCP zeigen. Trotzdem gibt es neben Funk auch Stadionrock und die klassischen Peppers „Romantik-Oden“. Muss man besitzen. Eine völlig andere Heldinnenverehrung wird uns durch das David Klein Quintett zuteil. „My Marilyn“ ist die Hommage des Schweizer Tenorsaxophonisten an die Monroe. Ein Album, das zum Start des Marilyn Monroe Musicals noch einmal neu aufgelegt wird. Die Filmsongs der MM hat David Klein von der staubigen Patina freigelegt und modern aber ursprünglich transformiert. Ein Hochgenuss, der nicht umsonst lange in den Jazzcharts vertreten war.

Befreit vom Starpathos gehen Schorsch & de Bagasch mit ihrem „sekänd händ blues“ zu Werke. Gereinigt vom Schmutz des Kommerzes gibt es bayrische Mundart, lakonischen Gesang mit treffsicherer Umweltbeobachtungsgabe und Blues, dem man Erfahrung, Lust und Willen anmerkt. Gestandene Mannsbilder geben sich die bayrische Ehre und kommen jede Sekunde des Albums ohne Effekthascherei oder Aufgesetztheit aus. Zweite Reihe trifft bei Garland Jeffreys nicht so ganz zu. Schließlich arbeitet er oft mit Bruce Springsteen oder Lou Reed. Aber vorne ist er in Europa doch nicht, obwohl man den Hit „Return of the Matador“ durchaus kennen müsste. Seine Kompilation der besten Songs seiner Karriere umfasst neben zwei neuen Songs sechzehn Klassiker, die ihn begehrt machten. Schöne Reise in schöne Zeiten. Travis Blaque stellt sein erstes Soloalbum „The Many Facets Of“ vor. Astreiner Soul trifft auf Hip Hop der so genannten „Neuen Britischen Schule“. Will heißen: Alles gemäßigter, nicht der Show untergeordnet, sondern mit Gefühl und Musik. Flutscht ungeheuer geradlinig bei Travis Blaque.

Die österreichische Band Julia umspielt mutig die Klippen, an denen man sich als junge Band mit Rockgitarrenmusik schneiden kann. Zwar ist „Sunrise“ astreiner Collegerock in dessen Gehegen sie wüten, aber pomadig wirkt es nie. Bodenständig vermitteln Julia ihre Lust am Spielen und an der Musik. Und so vermeidet man platte Refrains, uralte Riffs und behäbige Songstrukturen. Eine warme Brise aus dem Alpenland. Aufrichtige Rockmusik kommt aus Jacksonville, USA. Shinedown geben sich mit „Us and Them“ zum zweiten Mal die Ehre und überzeugen. Die Gitarren zuverlässig und wahrhaft an der alten Rockschule ausgerichtet, die Songs hart aber mit Hitpotential. Allerdings nie schmonzettenhaft wie 3 Doors Down. Shinedown bewahren sich Charakter und Härte. Gnadenloses Rockalbum.

Mit Engerica und „There Are No Happy Endings“ hat man erst mal ein großes Problem. Der Stilmix aus Rock, Emo, Hardcore und Düstermetal will nicht so recht die Lauschkanäle finden. Das ändert sich mit zunehmender Spieldauer. Man entdeckt Grooves, Ironisches gar und letzt-
endlich einen Happen Rockmusik, den man gerne auf dem Teller hat. Modernes Album, das sich nicht einordnen lassen will. Gut so. Aus Glasgow kommen Camera Obscura. Übles befürchtet man da. Denn eine weitere Band, die nach Franz Ferdinand klingt oder aus Kunststudenten besteht, bräuchte niemand. Und so freut man sich bei Camera Obscura nach drei Songs über glasklare Popmusik, romantische Streicher, theatralische Gitarren und eine blumige Sängerin, die dem Gebilde ein amtliches Popsiegel verleiht. Eine Freude in Sachen Rockmusik ist das neue Album der Schweden Paatos. Ist es Moderner Rock? Post-Rock? Melancholischer Prog? Es ist von allem reichlich. Detaillierter sind Paatos geworden. Einfühlsamer aber doch ruppiger. Sängerin Petronella Nettermalm bleibt die Konstante der Band, doch zeitgleich scheint im Songwriting ein kaum zu erwartender Quantensprung stattgefunden zu haben. Brüsk und barsch ecken manche Gitarrenriffs an, dennoch gibt es Gefasstheit, ja fast Stoizismus, der das vertritt, was man so gerne mit Paatos verbinden möchte: Die Kunst der Ruhe im dynamischen Umfeld. Vielleicht der Erlkönig unter den künftigen Rockalben. Ein brauchbares Album hört man von Neil Young. „Living with War“ richtet sich unzweifelhaft gegen George W. Bush. Young selbst ist an der elektrischen Gitarre zu hören, dazu Chad Cromwell an den Drums, Rick Rosas am Bass und Tommy Bray an der Trompete. Und ein 100-köpfiger Chor. Oft erreichen die Songs Tiefe („Restless Consumer“, „Lets Impeach the President“ mit herrlichen Trompeten), manchmal fehlt die letzte Konsequenz, die Young allerdings mit Routine und Aura kompensiert. Typisch eben.

Diskographie

Pearl Jam – Pearl Jam (J Records, 28.4.2006)
Red Hot Chili Peppers – Stadium Arcadium (Warner, 2.5.2006)
David Klein Quintett – My Marilyn (Voice of Joy, 19.5.2006)
Schorsch & de Bagasch – sekänd händ blues (Point Music, 2.5.2006)
Garland Jeffreys – I’m alive (Universal, 16.6.2006)
Travis Blaque – The Many Facets Of (Unique, 9.6.2006)
Julia – Sunrise (Edel, 16.6.2006)
Shinedown – Us and them (Inkubator, 16.6.2006)
Engerica –There Are No Happy Endings (Sanctuary, 26.5.2006)
Camera Obscura – Let’s go out of this country (Elefant Records, 26.6.2006)
Paatos – Silence of another kind (InsideOut, 19.5.2006)
Neil Young – Living with war (Warner, 12.5.2006)

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