Mieczyslaw Weinberg (auch Moisje Vainberg, 1919–96), ein polnischer Jude, der sein ganzes Erwachsenenleben in der Sowjetunion zubrachte, hatte durch den Holocaust seine gesamte Familie verloren. Er sah sich förmlich dazu gezwungen, als Komponist Zeugnis gegen den Krieg und für die Völkerverständigung abzulegen, um damit sein Überleben moralisch zu rechtfertigen. Erfreulich, dass Weinbergs Rang, der Schostakowitsch in nichts nachsteht, zunehmend erkannt wird: Zu den Zyklen der Symphonien auf Chandos und der Streichquartette auf cpo gesellt sich nun eine weitere diskographische Initiative.
Die DVD mit der Oper „Die Passagierin“ von den Bregenzer Festspielen 2010 war nur der Vorbote einer umfassenden „Weinberg Edition“ auf NEOS. Das früheste in diesem Rahmen vorgestellte Werk datiert noch auf die Endphase des Zweiten Weltkriegs: Es handelt sich um das kürzlich auch bei Hänssler erschienene, fünfsätzige Klavierquintett op. 18. Mit seiner dreiviertelstündigen Spieldauer und der Vielfalt der Charaktere ist es beim ersten Hören gar nicht zu erfassen, aber dass es sich um bedeutende Musik handelt, in deren Stimmungskontrasten sich die bewegten Zeitläufte und das private Schicksal Weinbergs widerspiegeln, das hört man auf Anhieb. Ein größerer Kontrast als zur Sinfonietta von 1948 wäre kaum vorstellbar. Allerdings ist die geradezu schmissige Heiterkeit der tänzerischen Ecksätze im Lichte des neuerlich aufkeimenden Antisemitismus und der Stalin’schen Gängelungen jener Ära mit großer Vorsicht zu genießen. In seiner schlichten Schönheit geradezu ergreifend geriet der in der Tradition der Klezmorim stehende langsame Satz – seltsam eigentlich, dass Weinberg nicht sofort für den Film verpflichtet wurde. Jedenfalls entging er durch den allgemein verständlichen, kompositorisch virtuos gehandhabten Folklorismus einstweilen dem Vorwurf des Formalismus. Mit dem Streichtrio von 1950 kehrt Weinberg zum tiefen Ernst des Quintetts zurück. Obgleich er dabei zu einer weit größeren Konzentration in der Aussage gelangt, ließen ihn die unsicheren Zeiten vor einer Publikation dieses allzu intimen Meisterwerks zurückschrecken. Längst zu den beliebtesten Stücken Weinbergs zählt hingegen die in unmittelbarer Nachbarschaft zu Schostakowitschs 1. Cellokonzert entstandene 2. Cellosonate – mit Recht. Als nächstes geraten wir in den Genuss der mittlerweile zweiten
Liveaufnahme der 6. Symphonie (die erste mit dem Tschaikowsky-Sinfonieorchester des Moskauer Rundfunks erschien vor Jahresfrist auf Relief), die Vladimir Fedoseyev aufzeichnen ließ; weshalb die vorhergehende 27, die vorliegende aber 44 Minuten dauert, bleibt unerfindlich – Weinbergs Lieblingsdirigent wird wohl kaum so stark abweichende Tempi anschlagen. Existieren von dem Werk, von dem Schostakowitsch sagte, dass er es gerne selbst geschrieben hätte, zwei Fassungen, zumal auch die Satzbezeichnungen leicht differieren? Jedenfalls besticht die 6. trotz ihrer ernsten Thematik durch eine fast bukolische Stimmung und einen hoffnungsfrohen Schluss; die Kombination Knabenchor (Wiener Sängerknaben) und Orchester (Wiener Symphoniker) kommt einem Geniestreich gleich. Das nur zwei Jahre später begonnene Requiem (1965–67) knüpft hier qualitativ an; zu den Ausführenden treten ein Solosopran und ein gemischter Chor hinzu, und neben einer Mandoline (!) spielt auch ein konzertierendes Cembalo, das Weinberg schon in der unmittelbar vorausgegangenen 7. Symphonie verwendet hatte, wieder eine tragende Rolle. Verschiedene Dichter, unter ihnen Lorca, lieferten Weinberg die Vorlagen. Der längste Abschnitt auf Texte von Fukagawa war zuvor schon als Kantate „Hiroshima“ veröffentlicht worden. Obwohl es sich um keine liturgische Komposition handelte, wurde das Requiem in seiner Ganzheit erst 2009 uraufgeführt. Das mit seinen Kräften haushaltende, geradezu kammermusikalisch durchhörbare Gedenkstück bewegt sich auf Augenhöhe mit Brittens „War Requiem“ und Zimmermanns „Requiem für einen jungen Dichter“. In seiner scheinbar auf äußerliche Virtuosität setzenden Faktur zunächst eher unzeitgemäß mutet daneben das Trompetenkonzert von 1967 an; die diskret gehandhabte Collage-Technik des Schlusses scheint allerdings Schostakowitschs 15. Symphonie vorwegzunehmen. Die „Drei Palmen“ nach Lermontov für Sopran und Streichquartett enden wie die Geschichte in tiefer Hoffnungslosigkeit; hier ist der Mangel an Perspektive in der ausgehenden Breschnjew-Ära mit Händen zu greifen. Auf die 80er-Jahre, also die Zeit von Glasnost und Perestroika, datiert die Trilogie der Symphonien 17–19. Deren erste mit dem Untertitel „Erinnerung“ (an den Beginn des „Großen Vaterländischen Krieges“), wieder rein instrumental gehalten, ist ihrem Dirigenten Vladimir Fedoseyev gewidmet. Weinberg war sich hier längst seiner mangelnden Modernität bewusst; dafür reiht sich seine 17. Symphonie nahtlos in die symphonische Tradition Bruckners und Mahlers ein, die Weinberg gemeinsam mit seinem Weggefährten Schostakowitsch fortgeschrieben hatte und als deren wahrhaft letzter überlebender Vertreter er sich nun fühlen musste.
Warum die originalen Programmfolgen der Konzerte auf den CDs nicht beibehalten wurden, bleibt das Geheimnis der Herausgeber: Die Kopplung des Streichtrios mit der Cellosonate (beide mit dem Cellisten Christoph Stradner), des Klavierquintetts mit den „Drei Palmen“ (mit dem EOS-Quartett) sowie der Sinfonietta mit dem Trompetenkonzert (mit dem Symphonieorchester Vorarlberg unter Gérard Korsten) hätte weit zwingender gewirkt als das willkürliche Zusammenwürfeln von Kammer- und Orchestermusik – dies übrigens eine mehr und mehr um sich greifende Unsitte der Plattenindustrie. Gelegentliche laute Huster stören bei wiederholtem Anhören; sie hätten entweder durch Korrektursitzungen im Anschluss an die Aufführungen getilgt oder durch digitale Nachbearbeitung zumindest gedämpft werden können. (Wenigstens den Applaus hat man uns erspart.) Auch kann ich keinerlei Editionsprinzip erkennen: Sollte durch die Audio-Dokumentation des Festivals die Bandbreite des Komponisten aufgezeigt werden oder ging es darum, überwiegend bisher nicht aufgenommene Werke vorzulegen? In letzterem Fall hätte man aber getrost einiges fortlassen und das Verbleibende anders anordnen können, zumal die Auslastung der bis jetzt vorliegenden Tonträger mit 53 bis 67 Minuten eher sparsam bemessen ist. Auf dem Rücken der CD-Hüllen steht nur die jeweilige Nummer des Bandes; um zu erfahren, welche Werke dieser enthält, muss man ihn aus dem Regal ziehen. Die Gesangstexte wurden prinzipiell nicht abgedruckt; wir erfahren also nicht, worum es in den durchgängig russisch gesungenen Vokalwerken im Einzelnen geht. Das ist nicht bloß schade, sondern ärgerlich und unverzeihlich. Wenigstens geben Interpretationen und Tontechnik kaum Anlass zu Beanstandungen, die SACDS mit der 6. Symphonie und der 1. Sinfonietta (Vol. 1) und dem Requiem (Vol. 3) werden in Zukunft schwer zu übertreffen sein.
- Mieczyslaw Weinberg: Weinberg-Edition, Vol. 1–5. Sinfonien 6 und 17, Sinfonietta, Trompetenkonzert, Requiem, Kammermusik. Verschiedene Interpreten. NEOS 11125–11129