Johann Sebastian Bach: Goldbergvariationen; Teodoro Anzellotti, Akkordeon; Winter & Winter 910 170-2; br />
3 Compositions by John Cage; Teodoro Anzellotti, Akkordeon; Winter & Winter 910 080-2
Domenico Scarlatti: „Vivi felice“; Teodoro Anzellotti, Akkordeon; Winter & Winter 910 062-2
Erik Satie: Compositeur de musique; Teodoro Anzellotti, Akkordeon, Winter & Winter 910 031-2
Die sogenannte überlieferte Musik, nicht die von heute also, stellt immer wieder aufs Neue Fragen. Die von heute klarerweise immer. Und das ist bestens so. Denn wäre es anders, wäre diese Musik längst archiviert in muffelnden Kellerverschlägen und klimatisierten Schauräumen, abgelagert unter Staubschichten und umweht nicht vom Hauch der Geschichte, sondern vom Sog des Klimaautomaten, katalogisiert als „verbindlich dargestellt“. Wie also war das? War Johann Sebastian Bach originär oder resümierend? War Erik Satie mehr als ein Kauz inmitten von Pariser Käuzen rund um den Montmartre? War John Cage „nur“ der genialste Konzeptkünstler des zwanzigsten Jahrhunderts? War Domenico Scarlatti Revolutionär jenseits seiner Tastenfertigkeiten?
Gewiss hat Bach auf höchstem Niveau zusammengefasst, alles was vor ihm war, komprimiert und auf einer höheren Ebene Erdnahes und Erdfernes zueinander geführt. Gewiss war Satie Scherzkeks pur und Ironisierer und Spötter und Witzbold in Reinkultur. Trotzdem und gerade deswegen gab er dem Postwagnerismus seiner Zeit typisch französische Anstöße zur „clarté“ und mag in manch einer seiner Miniaturen Vorläufer sein fürs Neue in der Neuen Musik, nicht für die Minimalisten von La Monte Young über John Adams bis zu Steve Reich und Philip Glass allein. Den Verknappern Richtung Webern mag er Wegbereiter gewesen sein. Und manchem von denen, die heute „ernst“ komponieren, würde eine Prise Satie nicht schaden. Auch der naturnahe und esoterisch versierte John Cage verlinkte Frühes mit Spätem, abstrakt pur zu Denkendes mit prall allein zu Fühlendem. Und innovativer als Scarlatti war keiner zu seiner Zeit, mediterran im Rhythmus, provokant in den Linienführungen seiner Verzahnungen, harmonisch gewagt. Nicht umsonst greift einer der wichtigsten und bedeutendsten Akkordeonisten von heute auf all diese Musik der unmittelbaren Gegenwart und der vermittelten Vergangenheit zurück. Richtet sie ein für sein Instrument – wo es keine Originalkomposition ist.
Jetzt, zehn Jahre nach der Uri-Caine-Adaption der Johann Sebastian Bach’schen Goldbergvariationen übergibt er seine vom Umgang mit der Zeitgenossenschaft des Komponierens geprägte Sicht auf dieses kontrapunktische „opus summum“ der Öffentlichkeit. Und wer seine gepflegten Vorurteile gegen dieses Instrument weiter pflegen will, der sollte sich fern halten von diesem Geniestreich. Denn, was der im süditalienischen Apulien geborene und bei Baden-Baden aufgewachsene Musiker diesem so sehr mit Körper, Atem und Bewegung verbundenen Instrument entlockt, findet nicht seinesgleichen: Virtuosität, Klangreichtum, Farben, Linien, Rhythmen – Goldberg nicht auf Klavier oder Cembalo, sondern auf dem Akkordeon, das eröffnet diesem Werk wahrhaft ungeahnte und unerhörte Dimensionen. In Kombination mit den Satie-Cage-und-Scarlatti-CDs steht manche lieb gewordene Sicht auf die Musik in Frage. Das außerordentliche Grafik-Design der Münchner Winter&Winter trägt zum Erkenntnisgewinn nicht unerheblich bei.