Anlässlich des 150. Geburtstags von Mel (=Melanie) Bonis (1858–1937) können wir endlich einen repräsentativen Überblick über die Bandbreite ihres Schaffens gewinnen, das schon im letzten Drittel ihres Lebens der Vergessenheit anheim fiel, ohne zuvor wirklich rezipiert worden zu sein.
Daran ist zum einen der Stilwandel um den Ersten Weltkrieg schuld (der selbst die großen Spätwerke von Fauré und Saint-Saëns überholt wirken ließ), zum anderen und mehr noch ihr Geschlecht: In der anbrechenden
Belle Epoque war eine Existenz als freie Komponistin so unvorstellbar, dass die hochbegabte, sogar unter Debussy und Pierné, ihren Mitschülern am Conservatoire, noch positiv auffallende Mel Bonis von ihren wohlmeinenden Eltern zum Abbruch des Studiums gezwungen und in eine Vernunftehe mit einem älteren Industriellen hineingedrängt wurde, in der dann neben den Mutterpflichten (für die fünf Söhne ihres Mannes und drei gemeinsame Kinder) von Musik kaum noch die Rede war. Erst nach dem Tode ihres Ehemanns konnte Madame Domange (so ihr bürgerlicher Name) die bislang geheim gehaltene Tochter, die ihrer Jugendliebe zu einem Musiker entsprossen war, anerkennen und ganz ihre Berufung leben. Die musikalischen Soiréen, die sie ab der Jahrhundertwende in ihrem gastfreundlichen Haus abhielt, genossen einen hervorragenden Ruf, und aus ihrer zwischenzeitlich beinahe eingetrockneten Feder flossen zwei- bis dreihundert Werke (die Angaben differieren) aller nur denkbarer Kleinbesetzungen. Viele davon harren bis heute ihrer ersten Aufführung.
Mel Bonis schrieb ihr ganzes Leben lang Musik für oder zumindest mit Klavier. Die meist knappen, dafür mitreißenden und besonders im Spätwerk qualitativ bestechenden Charakterstücke klangen von Anfang an nicht besonders zeitgemäß, da sie vielfach noch an Chopin anknüpfen – was dem heutigen Genuss jedoch mitnichten entgegensteht. Der Flöte hat sich Bonis erst in ihrer zweiten Lebenshälfte zugewandt, aber dafür – wahrscheinlich, weil ohnehin keine Aufführungen in Sicht waren – auf die originellste Art: Zu dem Duo Flöte/Klavier gesellen sich mal eine Geige, mal Geige und Bratsche, mal ein Horn, einmal sogar – in der einsätzigen Septett-Fantasie – eine zweite Flöte plus Streichquartett. Dabei führt sie den Nachweis, dass „Querflöte“ in Frankreich nicht automatisch „Impressionismus“ bedeuten musste. Am deutlichsten ihrem Lehrer César Franck verpflichtet scheinen mir die beiden Klavierquartette, von denen bereits das erste, 1905 vollendete, stilistisch hinter gleichzeitige Werke Debussys oder Ravels zurückfällt. Dabei hebt es sich durch seine Durchhörbarkeit und klangliche Raffinesse positiv ab von manchem Schwulst der Spätestromantik. Das von seiner neusachlichen Umgebung gänzlich unberührt gebliebene 2. Klavierquartett von 1927 gab die zunehmend von Depressionen (die sich in der Musik nirgends niederschlagen!) geplagte alte Dame selbst in Druck, ohne jedoch ein einziges Exemplar absetzen zu können. Mel Bonis, die durch ihre Freude an schönen Melodien beim oberflächlichen Hören als Salonkomponistin durchgehen könnte, füllte also auch anspruchsvolle Formen mit Substanz, selbst wenn der – im Übrigen alles andere als weichliche – Duktus stets dem romantischen 19. Jahrhundert verpflichtet blieb.