Will man auf dem Tonträgermarkt einen Trend erkennen, dann ist es vielleicht dieser: Während die einstigen „Majors“ zusehends ihre Archive plündern, Box um Box heraushauen und sich als internationale Marketingmaschinen verstehen, sind es – nicht nur hierzulande – gerade die kleinen und kleinsten Labels, die mit hervorragenden Künstlern an wirklichen Novitäten arbeiten (auf das Repertoire wie auch auf Interpretationen bezogen).
Sie stehen mit ihren Einspielungen dem fortwährenden Ausverkauf der über Jahrzehnte angesammelten Produktionen geradezu entgegen; denn es fehlt den Boxen oft an wirklichen Repertoire-Raritäten, wie man sie in alten Katalogen finden konnte. Zugleich erscheint keine der alten, hausgemachten Traditionen mehr in Stein gemeißelt: Längst ist die einstmals „historische“ Aufführungspraxis im frühen 20. Jahrhundert angekommen – ob wirklich immer historisch informiert oder nur auf ein spezifisches Instrumentarium bezogen, sei dahin gestellt. Zugleich ist bei sinfonischen Klangkörpern herkömmlicher Prägung ein Bewusstsein dafür entstanden, was interpretatorisch alles möglich ist, wenn man nur will. Insofern brachte das zurückliegende Jahr – hier nur auf das sinfonische Repertoire bezogen – manch’ wertvolle Entdeckung, manch’ überraschende Enttäuschung, und auch manche Kuriosität. Doch der Reihe nach, chronologisch.
Selten eingespielt wurden bisher Händels Concerti a due cori (HWV 332–334) – wegen der umfangreichen Besetzung oder der langen Satzfolge, vielleicht aber auch, weil es sich um ein musikalisches Recycling handelt. Wer hier vom Freiburger Barockorchester ein zündendes Feuerwerk erwartet hatte (Harmonia Mundi), erlebt allerdings nur eine professionell geschürte Flamme.
Frischer, allerdings auch etwas kantig, haben Werner Erhardt und das Ensemble l’arte del mondo drei Sinfonien von Anton Zimmermann ans Licht befördert, die einen bemerkenswerten Blick auf Haydns Kapellmeister-Kollegen in Bratislava erlauben (Deutsche Harmonia Mundi).
Dass man selbst Beethovens Neunte nicht mehr in „philharmonischer“ Größe besetzen muss, zeigen zwei hörenswerte, unterm Strich allerdings gegensätzliche Einspielungen: Giovanni Antonini und das Kammerorchester Basel musizieren fast kammermusikalisch durchsichtig und doch saftig (Sony), während Lan Shui und das Copenhagen Phil (der Konzert-Name des Tivoli-Orchesters) bei nahezu identischen Tempi die Partitur klanglich durchbürsten und dabei eigene Akzente setzen (Orchid).
Dass Großes nicht immer klein besetzt werden sollte, haben Thomas Dausgaard und das Swedish Chamber Orchestra Örebro mit Brahms’ Dritter und der Alt-Rhapsodie gezeigt (BIS); noch gewagter geht Mario Venzago mit der Tapiola Sinfonietta gleich alle Sinfonien und die beiden Serenaden an. Auf der anderen Seite steht der Aufwand von allein 40 Violinen in Mahlers Sechster: Das Muskelspiel einer ganzen Kompanie bleibt bei Teodor Currentzis jedoch ohne interpretatorische Konsequenzen (Sony).