Die musikalische Haltung auch gegenüber älterer Musik schult sich am gegenwärtigen Schaffen; genauso wie dieses der alten bedarf und in ihr ein unverzichtbares Korrektiv findet. Die Wurzel hat den Plan für das zu ihr gehörige Blatt in sich und ermöglicht dessen Wachstum; wenn sie aber keine Energie dorthin schickt, verkümmert letztlich auch sie. Kaum eine zweite Gestalt des 20. Jahrhunderts hat diese Prinzipien so sehr zur eigenen Schaffensmaxime erhoben und sie mit Leib und Seele erfüllt, wie der in diesen Tagen 80 Jahre alt gewordene Pierre Boulez. Zuerst als Komponist und Pianist in Erscheinung tretend, wurde er bald zur überragenden Dirigentenpersönlichkeit. Überragend deshalb, weil seine kompositorischen Erfahrungen, sein steter Wunsch, neues Fruchtland zu betreten, zurückflossen auf die Art, die traditionelle Musik zu sehen und zu hören.
Die Netzwerke zwischen Geschichte und Gegenwart sind fließend; vor allem dann, wenn die Bezüge ernst genommen werden. Das heißt für die Interpretation, das radikale Auftreten der älteren Musik in ihrer Zeit auch für das heutige Verständnis erfahrbar zu machen – und dann mag das Historische mitunter moderner wirken, als manches neu Entstandene. Daran denkt der gegenwärtige Musikbetrieb freilich nur wenig: Er neigt dazu, das Alte zu „zivilisieren“, also den Mantel der angenehmen, ja leichten Zerstreuung überzuhängen. Es entsteht der Eindruck einer pastellgefärbten Ferne, deren Schimmern man genießt wie den Sonnenuntergang.
Diesen Vorgaben hat sich Boulez nie gebeugt, schon seine Programmzusammenstellungen erzeugten fruchtbare Irritationen. Und das Moment der inneren Notwendigkeit, der individuellen Faszination, trat bei jedem Werk, ob alt oder modern, in gleichem Maße an den Hörer. Wenn jetzt die Deutsche Grammophon unter dem Titel „Boulez 2005“ eine Reihe mit neuen Aufnahmen herausgibt, die dem Dirigenten und Komponisten Pierre Boulez gewidmet sind, dann ist das ganz entschieden zu begrüßen. Jetzt sind die drei Klaviersonaten mit dem finnischen Pianisten Paavali Jumppanen, die Klavierkonzerte von Béla Bartók und drei Liederzyklen von Gustav Mahler erschienen (ebenfalls „Le Marteau sans maître“, das in der nächsten Ausgabe besprochen wird).
Bartóks drei Klavierkonzerte sind mit drei Pianisten und drei Orchestern vorgelegt. Krystian Zimerman und das Chicago Symphony Orchestra spielen das erste (2001), Leif Ove Andsnes und die Berliner Philharmoniker das zweite (2003) und das London Symphony Orchestra mit Hélène Grimaud das dritte (2004). Das mag zufällig, also jeweiligen Einspielsituationen geschuldet, wirken, doch bei genauerem Hinhören verbirgt sich hier eine überzeugende Logik. Denn Boulez hat die Besetzung stimmig den Charakteren der drei Konzerte angepasst (wie weit hierbei der Zufall mitspielte, ist dann zweitrangig).
So erzielen der Pole Zimerman und das Chicago SO einen ausgesprochen harten, unversöhnlichen Ton, der die schroffe Kontur des Werks markant hervorarbeitet. Andsnes hebt mit den Berlinern die ironisch gebrochenen Seiten des zweiten Konzerts überlegen hervor, und Grimaud findet genau den sensiblen und weicheren Klang des dritten. Boulez passt den jeweiligen Orchesterklang diesen Perspektiven luzide genau an.
Ähnlich ergeht es bei der Mahler-CD: auch hier eine sensible Abstimmung der Charakteristik. Thomas Quasthoff lässt in den „Liedern eines fahrenden Gesellen“ keine Sentimentalität zu und hebt gerade dadurch die Dimensionen der verzweifelten Trauer und des stillen Trostes auf neue Ebenen.
Violeta Urmana gelingt es großartig, die differenzierte Intimität der Rückert-Lieder zu modellieren, und Anne Sophie von Otter gibt sonor die „Kindertotenlieder“ in ihrer vom Orchester nachdrücklich unterstrichenen zerklüfteten Außenseite. Boulez wirkt in den knappen wie vielschichtigen Liedpartituren vielleicht noch überzeugender als in den Sinfonien.
Bei den drei Klaviersonaten von Pierre Boulez hat für mich Idil Biret (bei Naxos) die bislang überzeugendste Einspielung mit bestechender rhythmischer Innenspannung vorgelegt. Aber der junge Paavali Jumppanen bestätigt mit geschmeidigem Ton, Farbigkeit und äußerst sensibler Anschlagskultur eine Beobachtung, die immer wieder gerade bei kompositorischen Arbeiten von Boulez gemacht wird: Die Werke, die einst Bastionen stürmten und ästhetische Gebäude zum Wanken brachten, wirken heute ganz selbstverständlich in ihrer klanglichen Erscheinung. Es sind aufregend schöne Werke, trunken von Farbe und Geste.
Diskografie
• Béla Bartók: Klavierkonzerte. Krystian Zimerman, Chicago Symphony Orchestra; Leif Ove Andsnes, Berliner Philharmoniker; Hélène Grimaud, London Symphony Orchestra; Leitung: Pierre Boulez. DG 00289 477 5330.
• Gustav Mahler: Lieder eines fahrenden Gesellen; Rückert-Lieder; Kindertotenlieder. Quasthoff, Urmana, von Otter; Wiener Philharmoniker, Pierre Boulez. DG 00289 477 5329.
• Pierre Boulez: Klaviersonaten. Paavali Jumppanen. DG 00289 477 5328