Die gute Nachricht: Sie lebt noch, die CD (Michael Kube) +++ Einfach gute Musik (Mátyás Kiss) +++ Soundtrack der aktuellen Zeit (Sven Ferchow) +++ Auch das Jahr 2024 hat wieder mit hochkarätigen historischen Anthologien geglänzt (Christoph Schlüren) +++ Getrennte Sphären, wie die zwischen Klassik und Jazz, müssen nicht per se so bleiben, nur weil es fürs diskographische Sortiment bequem ist. (Hans-Dieter Grünefeld)
Schlüssel zur partiellen Entschleunigung
Zwischenstand (Kube)
Die gute Nachricht: Sie lebt noch, die CD. Zwar wird das gute alte Laufwerk schon seit vielen Jahren nicht mehr standardmäßig im Laptop verbaut, und für den stationären Handel sieht es immer trostloser aus (kennen Sie noch ein Fachgeschäft in ihrer Nähe?). Und doch gibt es ständig Neuerscheinungen von großen und kleinen Labels. Wer das Monatsmagazin eines großen deutschen Versandhändlers durchblättert (ja, auch der hatte mal reale Filialen), reibt sich alle vier Wochen verwundert die Augen. Hier existiert noch ein Markt – und der wird nicht nur von Liebhabern bestimmt. Auch wenn es ums Marketing geht, wird die CD immer noch gerne „mit besten Empfehlungen“ verschickt. Sie ist nach wie vor ein beliebtes Instrument, um sich bekannt zu machen – weil man ein solches Album eben immer wieder in die Hand nimmt (und sei es nur, um es auf dem Schreibtisch eine Weile hin und her zu schieben). Wer nur streamt, verliert schnell die Konzentration und den Faden. Das physische Album verlangt, nein: fordert geradezu Aufmerksamkeit und bietet den Schlüssel zur partiellen Entschleunigung.
So geht es mir jedenfalls beim Hören der Neuerscheinungen – natürlich gilt das auch für die nmz Hörbar (hoerbar.nmz.de). Die damit verbundenen Hörgewohnheiten sind jedoch nicht allein eine Frage der Generationen (die jüngere tendiert teilweise schon wieder zur LP), sondern eine Frage des Rezeptionsverhaltens, was immer eine Sache der eigenen Entscheidung ist: Will ich mich treiben lassen oder will ich mich konzentrieren? Letztlich ist es sogar eine Frage des puren Respekts gegenüber all jenen Musikerinnen und Interpreten, die etwas eingespielt haben. Abgesehen von den wenigen Zitronen haben auch sie sich konzentriert – leichtfertiges Spiel kann sich einfach niemand leisten.
Bei der Fülle der Neuerscheinungen ist es daher notwendig, sich zu orientieren oder orientieren zu lassen. Die Tageszeitungen haben sich längst von ihren „Phonoseiten“ verabschiedet, Fachzeitschriften sind rar geworden und eigentlich nur noch im Abonnement oder im Bahnhofsbuchhandel erhältlich. Wenn es nicht die berühmte allerletzte Sekunde und eine große Portion Mut gegeben hätte, wäre zum letzten Jahreswechsel sogar das FonoForum Geschichte gewesen, auch die Kolleginnen der Schweizer Musikzeitung müssen aktuell kräftig ausdünnen. Andererseits hat es Spotify noch immer nicht geschafft, den Erfordernissen im Bereich „Klassik“ gerecht zu werden. Dort ein bestimmtes Album zu finden (wenn man weiß, was man sucht), gleicht immer noch einer umfänglichen Recherchearbeit. Für 2024 lautete die Aufgabe: Finde die für dich richtige Fassung von Bruckners Sinfonie Nr. 4 unter allzu vielen Aufnahmen. All die verschiedenen Versionen vertragen sich nicht immer mit den einfachen Strukturen digitaler Kataloge. Der Reiz liegt ohnehin im Neuen, in den Repertoire-Entdeckungen, die es noch immer gibt (und absehbar geben wird). Dazu gehören für mich die Werke der französischen Komponistin Rita Strohl (1865–1941) oder die aufwühlenden Grautöne von Bára Gisladóttir (*1989) – aktuellere Musik kenne ich derzeit nicht. Skeptischer bin ich gegenüber enzyklopädisch anmutenden Einspielungen von Bach-Kantaten, Haydn- oder Mahler-Sinfonien. Den knappen Platz im Regal möchte man sich damit nicht voreilig verstopfen, wo doch schon Aussagekräftiges vorliegt – auf- und ausgeräumt wird später.
Michael Kube
Einfach gute Musik (Kiss)
Eine bezaubernde Entdeckung stellen die vier Holzbläsersonaten von Stefan Heucke dar. Der fleißige 65-Jährige hat Flöte, Oboe, Klarinette und Fagott mit jeweils einer ausgewachsenen Sonate bedacht, welche die jungen Solisten ins beste Licht setzen (gwk Records). Heuckes op. 114 halte ich für inspirierter als die entsprechenden Gattungsbeiträge Hindemiths, mithin viel zu schade, um sie nur als Probestücke oder bei Wettbewerben vorzutragen. Sie gehören in den Kammermusiksaal!
Bei Naxos erschien in Koproduktion mit Radio Bremen die mittlerweile dritte Folge sämtlicher 168 Lieder des einst gefeierten Liedbegleiters Erich J. Wolff; wäre der Altersgenosse Schönbergs nicht 1913 plötzlich verstorben, wäre er wohl kaum der Vergessenheit anheimgefallen. Klaus Simon schreibt nicht bloß die aufschlussreichen Booklets, er gibt auch die nachgelassenen Lieder Wolffs heraus und fungiert so ganz nebenbei noch als stark beanspruchter, doch nie überforderter Liedbegleiter. Bisher singen der Tenor Daniel Johannsen und die Mezzosopranistin Ida Aldrian (eine gute Wahl!), und künftig hoffentlich noch viele andere.
Schon abgeschlossen ist dagegen die erste wirklich vollständige Einspielung der Bruckner-Sinfonien unter der flotten, dennoch präzisen Stabführung von Markus Poschner, der alle authentischen Versionen auf 18 CDs zur Diskussion stellt. Bei den alternierend mit dem Bruckner Orchester Linz und dem Radiosymphonieorchester des ORF Wien entstandenen Aufnahmen, die sowohl einzeln bei Capriccio als auch in einer wohlfeilen Box bei Naxos angeboten werden, kommt Poschner ohne Weihrauch aus, folgt dafür aber akkurat dem Notentext der Neuen Anton Bruckner Gesamtausgabe.
Alle überlieferte Musik von Giovanni Antonio Pandolfi Mealli, der vor 400 Jahren in Montepulciano zur Welt kam, passt bequem auf eine Doppel-CD (Coviello). Die zwölf Violinsonaten der Opera 3 und 4 haben es jedoch in sich und stehen vergleichbaren, weit bekannteren Werken Bibers kaum nach. Daniel Sepec lässt die exorbitanten geigerischen Schwierigkeiten vergessen, die der Stylus phantasticus bereithält. Hille Perl, Lee Santana und Michael Behringer gehen Sepec in variablen Continuo-Besetzungen zur Hand.
Yoshiku Shimizu, die George Crumb in dessen späten Jahren noch konsultieren konnte, hat für Kairos drei seltener erklingende Werke für zwei Amplified Pianos aufgenommen – im Playback-Verfahren. Sie heißen „Zeitgeist“, „Celestial Mechanics (Makrokosmos IV)“ und „Otherworldly Resonances“ und umreißen schon in den Titeln, worum es Crumb geht: Er greift in seiner Musik nach den Sternen, und es gelingt ihm nicht bloß hier, eine ganz individuelle, geradezu magische Klangwelt von hohem Wiedererkennungswert zu erschaffen.
Exklusiv das Innere des Flügels erforscht der als „einziger Avantgardist Chinas“ geltende Ge Gan-Ru (geb. 1954) in seinen 12 Etüden für „extended piano“, also erweitertes Klavier. Mit enormem Aufwand (hinsichtlich Vorbereitung und Notation) gelingt ihm das Paradox, viele Aspekte der traditionellen Musik Chinas zu simulieren – nur mit mechanischen Mitteln, ganz ohne Elektronik. Umso extremer sind die Anforderungen an den weniger als Pianist denn als Perkussionist geforderten Interpreten Yiming Zhang (Grand Piano). Diese Neue Musik klingt, als wäre sie Jahrhunderte alt.
Eher ruhig (und eigentümlich zeitlos) dagegen das Gitarrenkonzert und das Hornquintett vom finnischen Altmeister Kalevi Aho. In den beiden etwa 25 Minuten dauernden Stücken umkleiden Mitglieder des Lapland Chamber Orchestra (unter John Storgards, BIS) die Solisten (Ismo Eskelinen, Ilkka Puputti) mit einem Rahmen, in dem ihre jeweilige Eigenart optimal zur Geltung kommt. Obwohl einem Früheres in ähnlichen Besetzungen in den Sinn kommen mag (Rodrigo bzw. Mozart), erinnern Ahos fein ausgehörte Werke an nichts Bestimmtes – sie sind einfach gute Musik.
Mátyás Kiss
Soundtrack der aktuellen Zeit (Ferchow)
Der nahezu geläuterte Sänger und Songschreiber Ryan Adams (#metoo-Kontext bitte selbst recherchieren) arbeitet seine Fehltritte musikalisch auf. Eine Veröffentlichung folgt der nächsten. Den Überblick zu behalten, mag Ryan Adams eventuell auch selbst schwerfallen, alle Hörenden dürfte das Sammelsurium aus Americana, Rock, Pop, Blues und Teilzeit-Grunge ebenso vor Probleme stellen. Im Januar gab es dann eine Fünfer-Veröffentlichung mit „Star Sign, Prisoners, Heatwave, Sword & Stone und 1985“. Im weiteren Jahresverlauf folgten andere Alben und Werke. Als Fan natürlich höchst spannend, zumal jede Platte berechtigt ist. Man muss sich sicher „warmhören“ mit manchem Song, der im Gewand eines besseren Demotapes daherkommt. Doch: Ryan Adams ist schon ein Charmeur, der ziemlich genau weiß, wie man Songs schreibt. (PAX-AM)
Die US-Punkrocker Green Day haben einst den allgemein verdaulichen Pop-Punk salonfähig gemacht. An dieser Mission feilt das Trio seit den Neunzigern unaufhörlich und unkaputtbar weiter. Klassiker wie Dookie oder American Idiot sind mehr als Beweis für den Erfolg ihrer Mission. Nach einigen Zwischenalben, die irgendwo und nirgendwo im Pop-Punk-Nebel herumstocherten, gelingt Green Day 2024 mit „Saviors“ tatsächlich ein Befreiungsschlag. Gutes Songwriting kann eben auch durch eine aalglatte Studioproduktion nicht gemeuchelt werden. Ein Album mit herausragenden Songs (Dilemma, Bobby Sox, Corvette Summer oder Father to a son), das an gute alte Tage erinnert, trotzdem und gerade durch zahlreiche kritische Songtexte zum Soundtrack der aktuellen Zeit passt. (Reprise Records)
Ein mehr als überraschendes, weil unerwartetes Comeback legten The Black Crowes 2024 aufs Parkett. Vorbei der Streit oder besser die Auszeit zwischen den kongenialen Brüdern Chris (Gesang) und Rich (Gitarre) Robinson. Ein Segen für die Musikwelt, der es immer mehr an selbiger und vor allem echter fehlt. „Happiness Bastards“ ist just jene Platte, die eine Rockband wie The Black Crowes genau im Jahr 2024 veröffentlichen muss. Da ist kein Ton zu viel, kein Text zweideutiger, als er sein müsste, um den Kern zu verstehen, und musikalisch ist das immer noch das oberste Regal. Dass der Platte tatsächlich eine kleine Welttournee folgte, die The Black Crowes mitunter nach Deutschland spülte, dürfte vielen Fans ein paar Tränen in die Äuglein gedrückt haben. Wenn schon Comeback, dann bitte so. (Silver Arrow Records)
Während The Black Crowes also bei ihren Schusterleisten bleiben, machten sich Pearl Jam (Sie wissen schon, die letzte Grungeband dieser Erde…) auf die Socken und probierten mit ihrem zwölften Studioalbum „Dark Matter“ mal aus, was die derzeitige digitale Produktionstechnik so kann, vor allem, wenn sie ein hipper, junger und gefeierter Musikproduzent namens Andrew Watt bedient. Der immerhin bereits die Rolling Stones aufpolierte. Im Rückblick und nach dem ersten Eindruck tut man dem Album unrecht, es als unnötig und kaum relevant zu bezeichnen. Sicher, Eddie Vedder fungiert nicht mehr als der wütende Grungeschreihals von einst und seine künstlerischen Gesangsanwandlungen bleiben nach wie vor verwirrend. Dennoch, auch im Zuge mancher Livemitschnitte, entfaltet „Dark Matter“ plötzlich eine unbändige Kraft, die man vor lauter Digitalisierung erst nicht erkennen mochte oder konnte. Von daher sollte man dem Album eine vierte und fünfte Chance einräumen, obwohl es im Pearl Jam-Kosmos wenig an Relevanz dazugewinnen wird. (Monkeywrench)
Sven Ferchow
Hochkarätiges (Schlüren)
Auch das Jahr 2024 hat wieder mit hochkarätigen historischen Anthologien geglänzt, vor allem aus den unerschöpflichen Sony Classical Archiven (Columbia und RCA) mit ihrer vorbildlichen klanglichen und informativen Aufbereitung: der legendäre Cello-Überflieger Emanuel Feuermann auf 7 CDs und Boxen der US-amerikanischen Nationalkomponisten Charles Ives (Jubilar) und Aaron Copland (spielt und dirigiert selbst) ragen hervor. Der Pokal für das herausragende Projekt geht freilich an die englische Lyrita, die im Rahmen der Inverlagnahme sämtlicher Werke durch Nimbus fast das gesamte Œuvre von George Lloyd (1913–1998) veröffentlicht, also bisher unter anderem sämtliche 12 Symphonien, die Klavier-, Violin- und Cellokonzerte, die Violin-Kammermusik, die Klaviermusik, die Blechbläserwerke und den Hauptteil der großen orchestralen Chorwerke (Litany, Symphonic Mass, Requiem etc.), das meiste davon unter der in jeder Hinsicht vorbildlichen und mitreißenden Leitung des Komponisten. Lloyd war einer der begabtesten Komponisten Englands und stand mit seiner so natürlich tabubefreiten wie einprägsamen, technisch hochstehenden und architektonisch vollendeten Musik nur aufgrund unglücklicher Umstände im Schatten Brittens und anderer Zeitgenossen, und auch als Opernkomponist ist er das neben Britten attraktivste Kaliber seiner Zeit. Seine Musik – hier sehr preiswert und mit exzellenten Informationen in tadellosem Klangbild angeboten – ist weder modernistisch noch traditionell, aber unverkennbar eigenständig und unbedingt entdeckenswert.
Eine interessante und unangepasste Gesamteinspielung der vier Symphonien von Jubilar Franz Schmidt präsentiert Accentus Music mit dem BBC Wales Orchestra unter dem jungen Briten Jonathan Berman, und Emilio Pessina lässt uns als diesjährige Hauptedition seiner Rhine Classics-Serie die unvergängliche Geigenkunst Aaron Rosand auf 3 CDs mit bisher unveröffentlichtem Material nacherleben.
Ein herrliches historisches Album bietet Supraphon mit drei Werken von Viktor Kalabis, dem bedeutendsten tschechischen Komponisten der Generation nach Martinu, der sich auch als veritabler Dirigent erweist, sowie Sonus Eterna mit den wildromantischen „Lebensstürmen“ nach Schubert von Heinz Winbeck unter Dennis Russell Davies – beides zentrale Anregungen zur Repertoireerweiterung. An Neuaufnahmen seien ausdrücklich empfohlen: das Diotima Quartet mit dem Mozart-nahen frühen Quartett Bruckners sowie dem monumentalen einzigen Streichquartett des Bruckner-Schülers Friedrich Klose, einem singulären, fast orchestral konzipierten, motivisch dicht gearbeiteten Hauptwerk der nachromantischen Epoche (Pentatone), sowie mit der dritten Folge sämtlicher Beiträge von Spaniens führendem Quartettkomponisten Conrado del Campo (March Vivo); das Quartetto di Cremona mit einer kompakt und klar aufgefassten „Kunst der Fuge“ von Bach (Orchid Classics); Mari Kodama mit einer Stunde Klavierminiaturen von Anton Bruckner voll schlichter Poesie (Pentatone); die erste Folge der Kammermusik Hans Winterbergs mit dem symphonischen 1. Streichquartett (EDA Records); Juanjo Mena und BBC Manchester mit exquisit dargebotenen Ballett-Trouvaillen von Roberto Gerhard (Alegrías, Don Quixote und Pedrelliana, Chandos Records); die monumentale, packende 5. Symphonie des Franko-Kanadiers Jacques Hétu (Analekta); und von Gurdjieffs musikalischer rechter Hand Thomas de Hartmann das Violinkonzert (mit Joshua Bell) und das Cellokonzert (mit Matt Haimowitz) – ukrainisch-weltmännische Musik aus russischer Tradition in prunkvollen Wiedergaben (Pentatone). Außerdem sei auf zwei Ausreißer verwiesen: das letzte Album der belgischen Gruppe Présent um den verstorbenen Gitarristen Roger Trigaux „This is NOT the End“ – abgründig filigraner, konzessionsloser Chamber Rock ohne Rückfahrschein (Cuneiform Records); und ein Live-Doppelalbum der legendären Jazz-meets-World-Music-Gruppe Oregon 1990 in Ludwigsburg (SWR JazzHaus).
Christoph Schlüren
Annäherungen (Grünefeld)
Getrennte Sphären, wie die zwischen Klassik und Jazz, müssen nicht per se so bleiben, nur weil es fürs diskographische Sortiment bequem ist. Ohnehin folgen Musikerinnen und Musiker lieber ihren Neigungen in durchaus disparate Bereiche, ja, sie kümmern sich um Annäherungen. Der französische Trompeter Romain Leleu hat den Kontext für mehrdimensionales Repertoire mit seinem stilflexiblen Streicherensemble signifikant erweitert. Hörbar im klassischen Metier ausgebildet, ist er, ohne Ego-Pose, vor allem integrativer Musiker, denn stets ist seine markante Trompetenstimme den Streicherparts in den Arrangements in der „Nuit fantastique“ zugeordnet. Franz Schubert, dessen „Nacht und Träume“ er als weiche Kantilene artikuliert, und die tiefe Timbre-Schwärze in „Round Midnight“ von Thelonius Monk sind sich nicht fremd. Romain Leleu gestaltet diesen Nachttrip durch sehr verschiedene Genres in allen Trompetenregistern unprätentiös und souverän. (RL Records)
Ebenso haben die norwegischen Stars Marius Neset (Saxophon) und Leif Ove Andsnes (Klavier) scheinbar inkompatible Notentreue der Klassik und Jazz-Improvisation in praxi souverän vereinbart. Ihre Antworten auf die Frage „Who We Are?“ sind wegen „Uncertainty“ allerdings nicht eindeutig festgelegt, sondern Kern der gleichnamigen Suite, die als vage Beethoven-Referenz in trügerischem Wohlklang ein Terrain zur gemeinsamen Gestaltung erkundet. Wobei ein postromantisches Motiv in Begleitung von Klavier-Arpeggien sich in „Beginning“ mit sanftem Cello-Cantus von Louisa Tuck zum hymnischen Sopransax-Gestus wandelt. Filigrane Klavier-Echos hat ein launiger Cello-Monolog und wendet sich zu einem maskierten Marsch, der in „Evolution“ schließlich zu rasantem Barock-Bebop wird. Diese Juxtapositionen und die Freude der Musikerinnen und Musiker an den raffinierten Neset-Kompositionen sind unüberhörbar. (Simax Classics)
Zwar entstand die Musik der Renaissance intentional nicht als Projektion für die Gegenwart, aber sie hat Potenzial zur Wirkung auf aktuelle Akteure. So die Idee für „Mirrors Of Time“ des renommierten katalanischen Forschers und Experten historisch informierter Aufführungspraxis Jordi Savall. Er stellte eine Repertoire-Liste zur Verfügung, von der vierzehn zeitgenössische Komponisten aus Spanien sich je ein Werk aneigneten und ihre Resonanzen im kreativen Transfer für Klavier solo notierten, deren Interpretationen Diego Fernández Magdaleno übernahm. Etwa indem sich die sanft fließenden „Lachrimae Antiquae“ von John Dowland bei J. Laborda zu heftigen Zuckungen steigern. Synkopisch swingende Motive für „Mariam Matrem“ (aus dem Llibre vermeill) löst J. Legido in Jazzharmonik auf. Alternierend begegnen sich solche unerwarteten Klangkonstellationen mit wunderbaren zeitlosen Spiegel-Reflexionen. (Alia Vox 9957, Do-CD)
Mit seinen Klavierwerken etablierte Erik Satie einen lakonisch-imaginativen Stil, dessen eigenwillige Harmonik der niederländische Bassist Caspar van Meel für ein Jazz-Sextett transponiert hat. Im Zentrum dieser Hommage sind vier der impressionistischen „Gnossienne“-Miniaturen: das erste, mit orientalischem Flair, kommt nach einem Zahnradthema der Brass-Front auf Swingtrip, wobei die Akkordsequenzen aufgerippelt werden. Weiter gibt es eines, das eine spirituelle Atmosphäre, ähnlich „Love Supreme“ von John Coltrane, hat. Diese sens-noir Emotionalität hat ihr Pendant dann in „Time Remembered“ von Bill Evans, hier durch filigrane Improvisationen ausgebreitet. Die jazzgemäße Aneignung dieses Repertoires ist Caspar van Messel in feinen Arrangements und mit kompetenten Partnern gelungen. (o-tone music) Erwartungen sind berechtigt, dass solche Annäherungen auch fürderhin stattfinden werden.
Hans-Dieter Grünefeld
Weiterlesen mit nmz+
Sie haben bereits ein Online Abo? Hier einloggen.
Testen Sie das Digital Abo drei Monate lang für nur € 4,50
oder upgraden Sie Ihr bestehendes Print-Abo für nur € 10,00.
Ihr Account wird sofort freigeschaltet!