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Ein blauer Kreis auf schwarzem Grund wie von Mikroben aus einer Petrischale im Labor.
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Sensorische Gewalt, lärmende Urgewalten

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Neue CDs neuer Musik, vorgestellt von Dirk Wieschollek
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Jason Eckardt: Streichquartett-Trilogie „Passage“ +++ Mikael Rudolfsson: „Encounter“ +++ Bára Gisladót­tir: „VAPE“

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Die abendfüllende Streichquartett-Trilogie „Passage“ (2011/2014/2018) von Jason Eckardt hat einen denkbar schaurigen Hintergrund: sie reflektiert Praktiken der Folter, die auf Manipulationen der akustischen und visuellen Umgebung beruhen, im Fachjargon der CIA auch „sensorische Deprivation“ genannt. Einleuchtend, dass die Klangattacken in „Subject“ live von einer entsprechenden Lichtchoreografie begleitet werden. Aber auch ohne das folgenreiche Zusammenwirken von Licht und Schall haben Eckardts Streicher-Klänge in der messerscharfen Darstellung des JACK Quartetts das Potenzial zum Schock. Sie vermitteln im Rahmen block­artiger Klangfelder mit konzentrierter Direktheit der Gestik Momente der Angst und des Traumas: Akkordschläge erscheinen wie Nadelstiche, Ausbrüche der Verzweiflung wechseln mit melancholisch fluoreszierender Agonie. Die sirenenhaften Glissandofelder in „Testify“ dringen in schmerzintensive Frequenzbereiche vor. Die Begegnung mit der Musik Anton Weberns war nach eigenem Bekunden der Grund, dass der einstige Jazz- und Rockgitarrist Eckardt mit dem Komponieren anfing. „pulse-echo“ (2013) erscheint wie der klingende Beweis dazu: Punktuelle Einzelsetzungen und deren Resonanzen vernetzen sich dort zu einem seriell anmutenden Pointillismus. Jeder Klang sitzt, kein Ton zu viel, wenn sich Streichquartett und Klavier gegenseitig triggern – eher Im-puls als Puls. (Kairos)

Als uraufführungsgestählter Posaunist beim Klangforum Wien ist ­Mikael Rudolfsson naturgemäß mit allen Wassern zeitgenössischer Klangproduktion gewaschen. Das demonstriert er auf „Encounter“ in einer Mischung aus „Klassikern“ und drei Erst­einspielungen, die noch im Rahmen von Harry Vogts letzten Dienstjahren beim WDR produziert wurden. Bevor die zirzensische Solo-Performance beginnt, verschmilzt Rudolfsson jedoch erstmal mit Klarinettist Olivier Vivares zum doppelgesichtigen Hyperinstrument in Gérard Griseys „Solo pour deux“ (1981). Danach darf der Posaunist in Berios wegweisender „Sequenza V“ (1966) alle Register experimenteller Klang­erzeugung und ihrer theatralen Nebeneffekte ziehen. An Berios Ent­deckergeist knüpft Eloain Lovis Hübners „Vier kurze Stücke für erweiterte Posaune“ (2022) unmittelbar an. Zwischen spieltechnischer Erweiterung und Destruktion wird praktisch nichts ausgelassen, was man einer Posaune so antun kann, darunter erstaunlich Unerhörtes. Direkt in die Instrumenten-Materie will Bernhard Ganders „Messing 1“ (2022) eindringen, das mit seinen krummen Metren und „Riffs“ Ganders Herkunft aus dem Heavy Metal auch hier nicht verleugnet. Ein wenig esoterisch kommt Konstantia Gourzis „The Encounter“ (2023) daher. Unter Einbeziehung obskurer Rausch-Klänge via Tapezuspielung wird hier eine Begegnung mit dem Unbekannten inszeniert. (Neos)

Die isländische Komponistin und Kontrabassistin Bára Gisladót­tir zählt zu den diesjährigen Förderpreis­träger*­innen der Ernst von Siemens Musikstiftung. Ihre geräuschintensiven Klang­ströme können ausgesprochen dystopische Dimensionen entwickeln. In „VAPE“ (2016/20) sind die orchestralen Geräuschtexturen denn auch eng verbunden mit einem realen Schreckensszenario: dem Giftgasangriff der Sekte Aum Shinrikyo in der Tokioter U-Bahn 1995. In der Regel kommen Gisladóttirs düstere Klanglandschaften aber ohne programmatische Unterfütterungen aus, ja sie selbst empfindet das, was so offensichtlich düster und bedrohlich klingen kann, eher energetisch: „Klang ist für mich Lebewesen“. In „Hringla“ (2021/22) ist sie selbst als Solistin am Werk und mischt improvisierend und elektrisch verstärkt fluoreszierende Obertonklänge in eine schwerelose Orchestertextur. Wie kompromisslos Gisladóttirs Kontinuen Extremwerte von Masse und Volumen ausreizen, beweist eindrucksvoll „COR“ (2021). Das isländische Symphonieorchester fühlt sich in diesen lärmenden Urgewalten hörbar zu Hause, die den Hörer mit entfesselten Schlagzeug-Partien überrollen wie ein Tsunami. Hervorzuheben ist auch die äußerst ansprechende Gestaltung dieser dänischen Veröffentlichung in Ko-Produktion mit der Siemens-Stiftung. (Dacapo Records)

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