Nun jedoch, kurzum, hier betritt ein lange Verblichener erstmals die Bühne der Gegenwart mit seinem Hauptwerk, und es besteht – nach erstem wie nach mehrfachem Hören – kein Zweifel, dass, sollten wir bisher vergeblich Ausschau gehalten haben nach jenem Genie, das (mit Ausnahme des frühen Schönberg) hierzulande (ich spreche nicht von Sibelius, Debussy, Nielsen, Ravel!) als vollgültiger Orchesterkomponist neben Richard Strauss und Gustav Mahler bestehen kann, es sich nicht, bei aller Wertschätzung, um Pfitzner oder Reger handelt, sondern um Siegmund von Hausegger mit seiner am 30. September 1911 vollendeten „Natursymphonie“.
Unglaublich viel unbekannte Musik oftmals hohen Karats ist der breiten Öffentlichkeit zugänglich gemacht worden, seit das Medium CD und der Vertriebsweg Internet zur Verfügung stehen. Oft ist es so, dass man den Eindruck hat, die Musikgeschichte müsse neu geschrieben oder wenigstens passagenweise umgeschrieben werden. Insofern kann ich mich als Teil einer spezialisierten Community betrachten, die sich unter dem Stichwort „hartgesottene Neuentdecker“ rubrizieren ließe. Was könnte uns schon noch wirklich zutiefst aufschrecken? Musik, die heute komponiert wird, gewiss. Aber solche, die schon bald ein Jahrhundert oder mehr „auf dem Buckel“ hat und aus dem Archivstaub reanimiert wurde? In einigen Fällen (ich denke, was unseren Sprachraum betrifft, beispielsweise an Heinrich Kaminski, Paul Büttner, Emil Bohnke, Heinz Schubert, Edmund von Borck) trifft das zu.
Diese „Programmsymphonie“ in drei Sätzen, die eigentlich gar keine ist, sondern eine vollendete Großtat absoluter Musik, die ein idealistisches Motto-Programm trägt, zählt zu den formal und thematisch kühnsten, handwerklich souveränsten, inhaltlich substantiellsten Werken der späten Blüte Dur-Moll-tonaler Musik. Der Erfindungsreichtum, der anders als bei Mahler auf hoher motivischer Konzentration und stets kernbezogener Abwandlung beruht, und die innere Disziplin, die eine Stringenz des Spannungsaufbaus zur Folge hat, die selbst Strauss nur selten erreicht, lassen die „Natursymphonie“ als einmalige Erscheinung aus der symphonischen Masse herausragen, vergleichbar anderen existenziellen Monumenten wie Josef Suks „Asrael-Symphonie“ oder Reinhold Glières „Ilya Murometz“. Dabei schöpft Hausegger, in der hochdramatischen Konfrontation von herbem Draufgängertum ungeglättet neudeutscher Abstammung und erhabener, inniger Schönheit mühelos kontrapunktierenden Fließens, aus einem bemerkenswerten In-sich-Ruhen, wie dies vor allem in der langen Ostinato-Steigerung des trauermarschartigen Dreiermetrums (diese Paradoxie erinnert an das wagnerische Adagio aus Felix Draesekes „Symphonia tragica“) des langsamen Mittelsatzes bis zur vollen Entfaltung von Glanz und Größe überwältigend zum Ausdruck kommt. Bislang hat es nicht eine einzige Aufnahme der „Natursymphonie“ gegeben (in keiner Rundfunkanstalt, in keinem historischen Archiv), und dies, obwohl höchst prominente Empfehlungen ausgesprochen wurden, seien sie nun von Richard Strauss oder Heinz Tiessen. Nun wurde sie in Köln für cpo eingespielt, und ein hinreißendes Werk entfaltet seine Pracht vor dem Hörer, ungeachtet vieler Pauschalitäten der mit exzellenten Kräften bestrittenen Aufführung: Wie wäre es, wenn eine Aufführungstradition existierte wie bei Strauss oder Mahler, wenn Pultkometen wie Mehta, Rattle oder Maazel das Werk selbstverständlich im Repertoire führten und sich mit Größen wie Furtwängler, Mitropoulos oder Celibidache messen müssten? Allein die Ahnung könnte süchtig machen.
Siegmund von Hausegger wurde 1872 in Graz als Sohn des eminenten Musikethikers und -erziehers Friedrich von Hausegger geboren. Früh erstritt er sich hohe Anerkennung als aus dem Liszt-Wagner-Strauss-Lager stammender Tonsetzer, und bald war er als ein Dirigent hoch geschätzt, dem man wohl heute „hohe Werktreue“ attestieren würde. Ab 1899 teilte er sich mit Felix Weingartner die Volkssymphoniekonzerte des Münchner Kaim-Orchesters, 1903 bis 1906 leitete er die Frankfurter Museumskonzerte, wirkte dann in Glasgow in Edinburgh und war 1910 bis 1920 Chefdirigent der Philharmoniker in Hamburg und beim Berliner Blüthner-Orchester. Dann ging er nach München, wo er ab 1922 Präsident der Staatlichen Akademie der Tonkunst und Chefdirigent der Münchner Philharmoniker war. Nachdem es Nazi-Proteste gegen ihn gegeben hatte, legte er 1934 die Leitung der Akademie und 1938 die Leitung der Philharmoniker nieder. Nach dem Kriege wurde er zum Ehrenpräsidenten der Akademie ernannt, und am 10. Oktober 1948 starb Hausegger in München. Er war der erste Dirigent, der Anton Bruckners Symphonien in den Originalfassungen dirigierte, und vor allem darauf beruht sein Nachruhm. Hausegger hat – neben sehr vielen Liedern und Chören sowie zwei frühen Opern – außer seinem Hauptwerk, der „Natursymphonie“, vier weitere Orchesterwerke geschaffen, die vielleicht nun auch bald eingespielt werden: die „Dionysische Phantasie“ (1897), die Tondichtungen „Barbarossa“ (1900, in drei Sätzen) und „Wieland der Schmied“ (1904) sowie 1919 die symphonischen Variationen über „Schlaf, Kindlein, schlaf“ mit dem Titel „Aufklänge“.
Hans von Bronsart schreibt in seiner Lebenslehre der Gegenwart „Einführung in die objektive Philosophie Raoul Francés“ (des „Vaters der Bionik“, der die Lehre vom Bios und damit, der Zeit weit voraus, einen ökologischen Forschungs- und Verhaltenskodex begründete) 1924 treffend, dass Hausegger in der Musik „einer der ganz wenigen ist, die um die Weltgesetzlichkeit wissen. Ganz bewusst macht er die Musik zur Interpretin weltanschaulicher, ‚philosophischer‘ Erlebnisse, die mit der Sprache oder durch das Bildnis nicht mehr darstellbar sind. Daher bevorzugt er auch die symphonische Form in seinen Kompositionen. Denn diese, die höchste Form der Musik, ist ‚die intensivste aller Sprachen, das dichteste Netz, um primäre Perzeptionen und Vorstellungen einzufangen‘. Alle seine Kompositionen sind Erfassung und Wiedergabe des Weltphänomens“. Dazu passt, dass die „Natursymphonie“ mit einem gigantisch ausgreifenden Chorsatz endet, einer Vertonung von Goethes „Prooemion“: „Im Namen dessen, der sich selbst erschuf! Von Ewigkeit in schaffendem Beruf (…). Du zählst nicht mehr, berechnest keine Zeit, und jeder Schritt ist Unermesslichkeit.“