Das Jahr 2021, in welchem das Musikleben lange stillstand, hat verblüffend großartige Tondokumente hervorgebracht. Zuerst möchte ich den französischen Dirigenten Rémy Ballot nennen, der mit seiner auf völlig natürliche, noble Weise in die tiefen Schichten der Werke eindringenden Serie der Bruckner-Symphonien in der barocken Akustik der St. Florianer Stiftsbasilika mehr als ein Insidertipp geworden ist.
Nun hat er, nach einer exzellenten Eroica, mit dem Klangkollektiv Wien, einem Projektorchester mit führenden Musikern der Stadt, eine superbe Mozart/Haydn-CD vorgelegt (Figaro-Ouvertüre, Die Uhr und Jupiter), die bezüglich kultivierter, zusammenhängender Gestaltung alles übertrifft, was ich in den vergangenen 20 Jahren an Wiener Klassik gehört habe. Ballot ist auch ein formidabler Geigenvirtuose, und in der Lockdown-Zeit im Oktober 2020 hat er mit seinem Altomonte-Ensemble die bisher feinste Aufnahme des Bruckner-Streichquintetts gemacht, gekoppelt mit dem frühen Quartett (alle Ballot-CDs bei Gramola).
Auch solistisch gibt es wunderbare Überraschungen. Auf ihrer zweiten CD ‚Flute Transcriptions‘ spielt die brasilianische Flötistin Raquele Magalhães mit der legendären französischen Pianistin Marie-Josephe Jude Übertragungen von Violinsonaten Schumanns (Nr. 2), Debussy und Ravel (Sonate posthume) mit solcher sowohl innig erfühlenden als auch brillanten und farbenreichen Klasse, dass fast alle Geiger erblassen müssen. Sie ist zweifellos die herausragende Erscheinung auf ihrem Instrument seit Rampal, und gerade auch wer Flöte sonst nicht so mag, sei nachdrücklich auf dieses Album verwiesen (NoMadMusic). Und dann ist da die Griechin Smaro Gregoriadou, die der Gitarre ganz neue Dimensionen eröffnet. Nie war der Klang so tragfähig, die Phrasierung so gesanglich, die Polyphonie so plastisch wie hier, was sowohl an den revolutionären Neuerungen im Instrumentenbau als auch an ihrer glasklar und lebenssprühend alle Details einem organischen Ganzen eingliedernden Spiel liegt: sei es Bach, Brittens Nocturnal nach Dowland oder Unbekanntes von Gubaidulina und Jacques Hétu, hier gibt es eine Perspektive für die klassische Gitarre, auf die wir nicht zu hoffen gewagt hätten (Delos Music). Soviel zu den Größen einer neuen Zeit…
Umwerfend ist die jüngste Veröffentlichung bei B Records (Outhere Music) von radikal existenziellen Werken Olivier Greifs (1950-2000): in der Celan-Symphonie für Bariton (Stephan Genz) und Orchester wird dem Dichter in unerreicht adäquater Unerbittlichkeit gehuldigt, und das Quadrupelkonzert für Streichtrio, Klavier und Orchester „Danse des morts“ schneidet tief in unser Unterbewusstsein. Außerdem dabei: Greif selbst als Liedbegleiter im „Livre des Saints Irlandais“. Musik mit maximalem Mut zu gleißend geradliniger Aussage unter Einbeziehung aller geeigneten Stilmittel jenseits der Konventionen.
Es seien noch einige historische Trouvaillen erwähnt: „Discovered Tapes“ des fulminanten italienischen Pianisten Pietro Scarpini mit zwei Mitschnitten des gigantischen Busoni-Klavierkonzerts (eine mit dem Cleveland Orchestra unter Szell) sowie Busonis Indianischer Fantasie, Scriabins Prométhée, einem Konzert von Valentino Bucchi, Scriabin-Solowerken und Scarpinis Transkription der Skizzen zu Mahlers 10. Symphonie für 2 Klaviere, von ihm allein im Overdub-Verfahren aufgenommen (Rhine Classics); zwei wundervolle Portrait-CDs der italienischen Geigerinnen Lilia D’Albore und Pina Carmirelli (Melo Classic), die beide musikalisch wie geigerisch zu den ganz großen Erscheinungen auf ihrem Instrument zählen; und die Pancho Vladigerov-Edition bei Capriccio in 5 Folgen auf 11 CDs, die die gesammelten Orchesterwerke des bulgarischen Nationalkomponisten inkl. Symphonien, 5 Klavier- und 2 Violinkonzerten unter der Leitung seines Sohns Alexander Vladigerov präsentiert.