Walter Zimmermann darf man ohne Übertreibung zu den interessantesten und im besten Sinne eigenwilligsten Vertretern der Gegenwartskomposition zählen. Dass dieser latent vergessene Umstand wieder stärker ins Bewusstsein rückt, verdankt sich in jüngster Zeit vor allem den Aktivitäten des New Yorker Labels mode. Nach der wunderbaren Wiederauflage der „Lokalen Musik“ und ihrer ästhetischen Satelliten gibt es nun unter dem Titel „Voces“ einen (auch auf drei CDs keineswegs vollständigen) Überblick über Zimmermanns Vokalwerk in einer erneut von den Liner Notes über die Textquellen bis hin zur Grafik sorgfältigen, großzügigen, ja schlichtweg liebevoll ausgestatteten Edition.
Stimme und Zimmermann, das ist so eine Sache. Seine Vokalbehandlung hatte mit den expressiven Allgemeinplätzen der neuen Musik nie etwas am Hut, und mit den üblichen Gepflogenheiten des Belcanto sowieso nicht. Ihr Kennzeichen ist eine von vordergründigen Emotionen und melodramatischen Psychologierungen angenehm befreite Klarheit. Gesang ist bei Zimmermann in der Regel das (selten laute) Medium einer ins Strukturelle gewendeten Innerlichkeit, oft in Duokonstellationen, wo Identitäten von Stimme und Instrument verwischen. Unter diesen Prämissen wird auch das agile Vokalensemble von „Dialogue des deux Roses“ (2005) nicht zum expressiv überfrachteten Vokaltheater. Zimmermanns literarische Ressourcen sind universal und interkulturell zwischen Mittelalter und zeitgenössischer Dichtung zu verorten. Die „Paradoxes of Love“ (1987) fußen auf Worten von Hadewijch aus dem 13. Jahrhundert. Ein ganzer Zyklus von sehr eindringlichen Stücken basiert auf Texten Robert Creeleys: Mezzosopran (wunderbar: Tehila Nini Goldstein!), Instrumentalgewebe und O-Töne Creeleys vermischen sich in „The Edge“ (1994), „Echoes“ (2000) und „Numbers“ (2000) zu hybriden Klangräumen der Einsamkeit.
Das sind aber beileibe nicht die einzigen Entdeckungen, die hier zu machen sind. Beeindruckend: „Das irakische Alphabet“ (2005) in einem unter die Haut gehenden Mitschnitt der Generalprobe mit der erdigen Natalia Pschenitschnikova, die mit Stimme und Bassflöte brahmanische Gesangsformeln zum Besten gibt, deren melodische Fragmente von Stefan Bartling mit einem elektronischen Bordun versehen wurden. Nie tönt das nach der interkulturellen Vermessenheit mancher „Weltmusik“, schon allein deshalb nicht, weil die Poetik dieser „imaginären Folklore“ (hätte Ligeti gesagt) eher latent absurd als authentisch erscheinen möchte. Eine echte Trouvaille ist auch das 1992 im Kontext der Merce Cunningham Dance Company entstandene „Self-Forgetting“ (1982/92) über Texte von Meister Eckhart, das hier mit der subversiven Intimität eines quasi-improvisatorischen Aktionsraumes daherkommt. David Tudor (Harmonium und Stimme), Takehisa Kosugi (Violine und Stimme), D’Arcy Gray (Almglocken und Stimme), John D. S. Adams (Gläser und Stimme) liefern hier eine launige Collage voller schräger, defizitärer Klänge und Textzertrümmerungen. Um das „klassische“ Klavierlied hat Zimmermann lange einen großen Bogen gemacht, und ist dann irgendwann doch schwach geworden: Seine Adaptionen der Gedichte von Michail Lermontov und Ossip Mandelstam in „...vergebens sind die Töne ... I + II“ (2015/16) entsprechen denn auch am ehesten dem Prinzip Vertonung im bildhaft klanglichen Nachspüren der lyrischen Inhalte.
Es spricht für die Offenherzigkeit von Zimmermanns ästhetischem Horizont (und dieser Edition), dass auch „Freunde. Schalkhäusser-Lieder“ (1979–82) hier in „historischer Aufnahme“ erstveröffentlicht wurden. Walter Zimmermann und Band. Nicht wirklich eine Rockband, aber damals tatsächlich auf Tour in den USA mit einem Set von schrägen, ironischen, oft sympathisch seltsamen Songs, die mit Elementen diversester „Liedkulturen“ spielen. Der Zyklus für Stimme, Klavier, Harfe, E-Gitarre und Schlagzeug beherbergt hinreißend minimalistische Balladen wie „Drums, Weg“ oder das Brinkmann-Gedicht „Über das Einzelne Weggehen“, so manchen Blues und Jazz im Fake-Modus, abgründige Liebeslieder, Geburtstagsgrüße, melancholische Alltagsbilder und Selbstreflexionen eines Existierens in und durch Musik.