Hans Sommer: Lieder. Stella Doufexis, Mezzosopran; Havard Gimse, Klavier.
Sony Classical 88697298752
Wilhelm Rettich: Else Lasker-Schüler Zyklus op. 26a. Michal Shamir, Sopran; Vag Papian, Klavier
Gideon Boss Musikproduktion gb 002
Gemessen an dem Umstand, dass Hans Sommer einst dafür gepriesen wurde, „Wagner’s Kunstprincip“ auf das Klavierlied übertragen zu haben, hat man von seinen Liedern bisher herzlich wenig gehört. Entsprechend kann die vorliegende Aufnahme auch die Weltersteinspielung für sich reklamieren. Und, um es vorweg zu nehmen, besagter Huldigung aus der „Österreichischen Musik- und Theaterzeitung“ von 1895, die Hans-Christoph Mauruschats knapper, aber informativer Booklet-Text zitiert, halten die Werke des Urheberrechts-Pioniers dann eben doch nicht ganz stand. Da gibt es zwar, etwa in den Eichendorff-Vertonungen der 1880er-Jahre, freier gefügte Formen, in „Verloren“ trifft Sommer damit auch die desolate Stimmung des Gedichts, in der „Lorelei“ aber kommt er mit seiner Dramatisierung nicht recht vom Fleck. Harmonisch häuft sich Vorhersehbares, die melodische Erfindung dagegen ist immer wieder von exquisiter Qualität, kann freilich, wenn die lyrische Vorlage sich in entsprechende Niederungen begibt, auch den Kitsch streifen („Desdemona“). In den späten Goethe-Vertonungen scheint Sommer dann ganz bei sich zu sein, lässt die Verse frei atmen und ausschwingen. Ohne weiteres könnten sie in Konzertprogrammen Strauss’schen Liedern zur Seite gestellt werden. Geadelt wird die begrüßenswerte Unternehmung durch Stella Doufexis’ warm leuchtenden, natürlich und klar artikulierenden Mezzo, von Havard Gimse anschmiegsam begleitet.
Nicht weniger verdienstvoll ist sicher das Engagement für den im musikhistorischen Bewusstsein noch weit weniger präsenten Wilhelm Rettich. Über das Schicksal des jüdischen Kaufmannssohns, der nach seinem holländischen Exil vergeblich in der BRD der 60er-Jahre wieder musikalisch Fuß zu fassen versuchte, gibt Georg Becks ausführlicher Begleittext Auskunft. Sein Liederzyklus auf Gedichte Else Lasker-Schülers (1923–28) ist ein Unikum unter den Vertonungen der Expressionistin. 26 Gedichte aus vier Werkgruppen hat Rettich ausgewählt und er unterstreicht inhaltliche Verwandtschaften durch musikalische Verknüpfungen: So nimmt die Nummer 13 („Dir“) die Vertonung von „Ruth“ (Nummer 4; aus den Hebräischen Balladen) und damit die direkte Ansprache an die Geliebte auf, reagiert aber mit der Verschiebung um eine Quart nach unten und der Verweigerung des emphatischen Aufschwungs auf die resignative Kälte des zweiten Textes. Das abschließende „Gebet“ wiederum ergänzt die Nummer 12, das „Klein Sterbelied“, um weitere Strophen und rundet die Sammlung somit sinnfällig zum Zyklus. Nicht durchweg reicht Rettichs harmonisches und melodisches Ausdrucksspektrum allerdings hin, um den illustren Vorlagen gerecht zu werden. Die Reger-Schule macht sich bemerkbar, nicht aber im Sinne einer Fruchtbarmachung von dessen modulatorischen Finessen für eine auf der Höhe der Texte angesiedelte Stimmungszeichnung.
Auch stößt Michal Shamir in den großen dramatischen Ausbrüchen an die Grenzen ihres in der Mittellage noch substanzreichen Soprans und vermag es trotz souveräner Unterstützung durch Vag Papian nicht, die Textnuancen voll zur Entfaltung zu bringen. Gleichwohl eine lohnende Begegnung.