Mit einer zunächst etwas willkürlich anmutenden Auswahl von Premierenmitschnitten aus der Zeit von 1955 bis 1984 startet die neue Edition „Wiener Staatsoper Live“. Wichtige Produktionen aus diesen ersten 30 Jahren nach dem Wiederaufbau des Opernhauses fehlen noch. Es bleibt zu hoffen, daß diese Lücken möglichst bald gefüllt werden. Bei den Aufnahmen handelt es sich um Bänder aus dem Archiv des Österreichischen Rundfunks (ORF), die sorgfältig remastered wurden. Natürlich reicht deren klangliche Qualität und Balance nicht an den Standard professioneller Studioproduktionen heran. Doch das hohe künstlerische Niveau dieser fünf auch interpretatorisch ganz unterschiedlichen Produktionen läßt deren akustische Distanz schnell vergessen.
Nach einem kostspieligen Wiederaufbau wurde die noch in den letzten Kriegswochen ausgebombte Wiener Staatsoper am 5. November 1955 eröffnet mit Beethovens Fidelio. Doch nicht diese spektakulär begangene Premiere macht den Anfang der groß angelegten Edition, sondern die Vorstellung am darauf folgenden Abend – eine szenisch aufpolierte Wiederaufnahme von Mozarts Don Giovanni in der Regie von Oscar Fritz Schuh sowie mit den Bühnenbildern und Kostümen von Caspar Neher. Dieser Mitschnitt soll für etwas stehen, das es in dieser Form heute nicht mehr gibt. Noch in den 50er Jahren gründete sich der Weltruf der Wiener Staatsoper insbesondere auf ihr sorgsam zusammengesetztes Mozart-Ensemble. Das bestand aus einigen der potentesten und stilistisch versiertesten Interpreten jener Zeit, die aber gleichzeitig fest an das Haus gebunden und bestens aufeinander eingespielt waren. Hinzu kommt: Sämtliche Musiktheaterwerke wurden damals in der Landessprache gegeben und somit direkt an das Publikum kommuniziert. Diese Spannung überträgt sich unfehlbar noch auf den heutigen Hörer. In der Titelrolle stand der amerikanische Bariton George London vielleicht auf dem Höhepunkt seiner vokalen Entwicklung. Viele gestische Momente seiner resoluten aristokratischen Darstellung schlagen sich eins zu eins in seiner Stimme nieder. Ähnlich bei dem gepflegt komödiantischen Leporello des Erich Kunz oder der spitzig-zarten Zerline von Irmgard Seefried. Eine belkantisch hochkultivierte, immer auch zerbrechliche Donna Anna gibt Lisa della Casa. Für dramatischen Furor sorgt die Donna Elvira von Sena Jurinac. Und als Prototyp des selbstlosen Liebhabers legt Anton Dermota allen denkbaren Schmelz in seinen edlen Tenor. Mit dem selbstbewußt auftretenden Medienstar Herbert von Karajan kehrte die neue Zeit auch in das altehrwürdige Haus am Ring ein. Von 1956 bis 1964 leitete der Maestro als Direktor die Geschicke der Staatsoper. Er führte das Stagione-Prinzip ein, engagierte international renommierte, hochbezahlte Stars für die tragenden Rollen, ließ alle Werke in der Originalsprache aufführen und inszenierte auch selbst. Mit Karajan kam zudem die alte Wiener Streitkultur zu neuer Blüte. Bezeichnend dafür sind die Vorgänge rund um die für den 3. November 1963 angesetzte Premiere von Puccinis La Bohème in der Ausstattung und Regie von Franco Zefirelli (ein Remake der Mailänder Produktion). Diese Premiere hat niemals stattgefunden, weil das gesamte Staatsopernpersonal an jenem Abend in den Streik getreten war. Das enttäuschte Publikum mußte wieder nach Hause geschickt werden, weil der musikalische Leiter darauf bestanden hatte, einen direttore suggeritore, einen italienischen Souffleur und Nebendirigenten, zu engagieren, was der künstlerische Betriebsrat wiederum nicht akzeptieren zu können glaubte. Keine der Seiten wollte auch nur einen Schritt nachgeben, und so setzte es einen Skandal, der noch in den 50er Jahren undenkbar gewesen wäre. Karajans absoluter Herrschaftsanspruch schlug sich ebenfalls in seinem Dirigat am 9. November jenes Jahres, also in der zweiten Vorstellung, nieder. Er tut seinen Sängern keine Gewalt an, doch er bindet sie mit staunenswerter Konzentration in seine straffe Linienführung ein und treibt das Orchester zu einer unerbittlichen dynamischen Flexibiltät und Sprungkraft. An der Seite von Mirella Freni als einer warm timbrierten und leidenschaftlichen Mimi behauptet sich der schon in Mailand anstelle von Giuseppe di Stefano eingesetzte Gianni Raimondi mit nonchalenter Verve. Fünf Jahre nach Karajans lautstarker Demission kam die deutschsprachige Produktion eines fast vergessenen Werkes zur Premiere, mit dem sich 1897 schon Gustav Mahler als Wiener Hofoperndirektor eingeführt hatte. Am 19. Oktober 1969 dirigierte der gänzlich unspektakuläre, durch und durch musikantische Josef Krips den Dalibor von Bedrich Smetana und brachte alle Kritiker hinsichtlich des Repertoirewertes dieser melodienseligen Freiheitsoper zum Verstummen. Mit Ludovico Spiess in der Titelrolle, Eberhard Wächter als König Vladislav und den Geschwistern Rysanek als Milada und Jitka hatte diese Inszenierung von Harry Buckwitz durchaus Gewicht. Eine neue Zäsur in der Geschichte der Wiener Staatsoper bedeutete die vergleichsweise kurze Amtsperiode von Lorin Maazel. 1982 übernahm der Dirigent mit ausgeprägten kompositorischen Neigungen die Leitung des Hauses, das er zwei Jahre später im Zorn schon wieder verlassen sollte. Während dieser Zeit setzte Maazel nicht nur einige organisatorische Neuerungen durch, sondern verlagerte auch den Programmschwerpunkt in Richtung 20. Jahrhundert. Stellvertretend dafür steht der Premierenmitschnitt von Alban Bergs komplettierter Lulu in der Regie von Wolfgang Weber. Der Wiener Komponist Friedrich Cerha hatte den dritten Akt des Werkes in den 70er Jahren kongenial nachinstrumentiert, und am 24. Oktober 1983 kam diese integrale Fassung endlich auch in Wien zur Aufführung. In der Titelpartie fesselte Julia Migenes als gefährlich naives Sexualobjekt mit bisher ungeahntem Ausdruckspotential. In weiteren Rollen waren Brigitte Fassbaender, Theo Adam, Richard Karczykowski, Hans Hotter und Oskar Czerwenka zu hören. Lorin Maazel führte das Ensemble mit großem Sachverstand durch die sperrige Partitur, die unter seinen Händen vor allem an Klarheit gewinnt. Noch unter die Direktion von Lorin Maazel fällt die letzte dieser fünf Premieren. Claudio Abbado dirigierte am 22. März 1984 Verdis Simon Boccanegra in der Regie von Giorgio Strehler. Nicht nur die szenische Umsetzung, auch die Wahl des angeblich spröden Werkes für den künftigen Spielplan war heftig umstritten. Doch zumindest von der musikalischen Seite darf diese Produktion als gelungen bezeichnet werden. Abbado läßt den Sängern alle Freiheiten für eine nuancenreiche Gestaltung und behält doch die Fäden in der Hand. In der weiträumigen und durchaus dramatischen Verdischen Tonsprache scheint er sich ganz beheimatet zu fühlen. Als Simon prägt sich Renato Bruson ins Gedächtnis, Katia Ricciarelli gestaltet seine Tochter Maria, und Ruggero Raimondi gibt den Jacopo Fiesco. Die Edition „Wiener Staatsoper Live“ wird fortgesetzt, zunächst mit weiteren Mitschnitten (darunter einem Parsifal) unter der Leitung Herbert von Karajans.Hauptrubrik
Wiener Ereignisse
Untertitel
Eine CD-Edition der Staatsoper
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