„Das steht nicht in der Mythologie!“ – „Richtig, wir schreiben sie auch gerade um…“ Barrie Koskys atemlos überdrehte, sehr queere und sehr unterhaltsame Inszenierung von Jacques Offenbachs „Orphée aux enfers“ machte vergangenes Jahr bei den Salzburger Festspielen Furore. Warum, das kann man nun anhand des gut ins Bild gesetzten Mitschnitts nachvollziehen.
Neben der musikalischen Qualität – verantwortet von einem quirligen Ensemble und den unter Enrique Mazzolas pointierter Leitung frech aufspielenden Wiener Philharmonikern – macht ein theatrales Kabinettstück immer wieder Staunen: Mit faszinierender Wandlungsfähigkeit spricht Max Hopp als omnipräsenter John Styx sämtliche Dialoge. Wie seine Stimme dank perfekt synchroner Lippenbewegungen förmlich in die Sängerkörper hineinkriecht, die er doubelt, um von dort scheinbar herauszuströmen, das ist hohe Schauspiel- und Regiekunst gleichermaßen. (C Major)
Vergleichsweise bieder kommt dagegen die zweite große Salzburger Opernproduktion des vergangenen Jahres daher: Giuseppe Verdis düsteres Meisterwerk „Simon Boccanegra“. Regisseur Andreas Kriegenburg bevölkert die riesige Festspielhausbühne mit jeder Menge Anzugherren, die statt Waffen bedrohlich ihre Handys zücken – mit Tweets als Munition… In diesem auch vom Bühnenbild her modernistisch kühlen Ambiente erzählt der Regisseur die verschlungene Handlung stringent und nachvollziehbar, für mitreißende oder berührende Momente sorgt jedoch allein die Musik. Valery Gergiev animiert die Wiener Philharmoniker zu opulenter, bisweilen auch kantiger Dramatik, im Ensemble leisten Luca Salsi in der Titelpartie und Marina Rebeka als Amelia gute, Charles Castronovo als Gabriele Adorno und René Pape als Fiesco sehr gute Arbeit. (C Major)
Aus Berlin kommen zwei weitere, kamera- wie klangtechnisch ebenfalls sehr hochwertige Videodokumente. Die Deutsche Oper hat vergangenes Jahr Alexander Zemlinskys bemerkenswerten Einakter „Der Zwerg“ herausgebracht, und zwar nicht, wie sonst häufig geschehen, mit einem weiteren Einakter gekoppelt, sondern als für sich stehende, vollwertige Oper. Einzige Ergänzung ist Arnold Schönbergs „Begleitmusik zu einer Lichtspielszene“ als Vorspiel, in dem Regisseur Tobias Kratzer den auf der Bühne allzu prominent herausgestellten Klavierpart auf zwei Darsteller verteilt. Die Affäre Zemlinskys mit Alma Mahler läuft hier nicht sonderlich subtil gleichsam im Zeitraffer ab. In der Oper selbst überzeugt dann Kratzers Verdoppelung der Titelfigur mit einem Tenor (beachtlich: David Butt Philip) und einem kleinwüchsigen Darsteller (eindringlich: Mick Morris Mehnert) nur phasenweise. Dennoch ein schönes Dokument für die Repertoirepflege abseits der Hauptstraße. (Naxos)
Bereits 2017 entstand der Mitschnitt von Henry Purcells „King Arthur“ an der Staatsoper Unter den Linden. Sven-Eric Bechtolf nimmt den Schauspielanteil des Stücks sehr ernst und unterstreicht ihn durch eine nicht durchweg schlüssige, im 2. Weltkrieg situierte Rahmenhandlung. Das historische Geschehen wird dann mit opulenter Bühnenausstattung bebildert, und auch René Jacobs serviert mit der Akademie für Alte Musik Berlin und einem guten Sängerteam Üppiges aus dem Purcell-Füllhorn, das er um weitere Nummern des Orpheus Britannicus angereichert hat. (Naxos)
In eher ungewohntes Terrain führte Anfang dieses Jahres das Teatro Regio Torino sein Publikum und setzte mit „Violanta“ eine von Erich Wolfgang Korngolds frühreifen Opern auf den Spielplan. Nicht im Venedig der Renaissance angesiedelt, sondern in rot-goldenes Fin-de-Siècle-Brokat gehüllt, inszeniert Pier Luigi Pizzi die leicht schwülstige Geschichte einer Frau, die jenem Womanizer, der ihre Schwester in den Freitod getrieben hat, verfällt, statt sich an ihm zu rächen. Gesungen wird beachtlich, wenn auch bisweilen mit zu viel Überdruck; im Graben macht Altmeister Pinchas Steinberg Korngolds staunenswertes Talent im Abtönen von Orchesterfarben hörbar. (Dynamic)
Das größte Vergnügen im Rahmen dieser spätsommerlichen Opernlese bereitet aber überraschenderweise Adolphe Adams „Le Postillon de Lonjumeau“. Rund um den Wunschkonzertschlager – die berühmte Tenorarie mit hohem D – entspinnt sich eine köstliche, mit weiblichem Rachewitz gewürzte Handlung, die Adam mit höchst inspirierten Arien und Ensembles musikalisch auf den Punkt bringt. Regisseur Michel Fau animierte im April 2019 an der Komischen Oper Paris nicht nur das brillante, in atemberaubende Kostüme von Christian Lacroix gesteckte Ensemble zu einer Höchstleistung, sondern stiehlt diesem mit seinen Kurzauftritten als ältliche Zofe zwischenzeitlich auch noch die Show. Das Orchester lässt unter Sébastien Roulands Leitung die Finesse von Adams köstlicher Musik moussieren. Quelle merveille! (Naxos)