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Natural Woman: Aretha Franklin. Foto: Amazing Grace/Weltkino
Natural Woman: Aretha Franklin. Foto: Amazing Grace/Weltkino
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Eine Königin, nicht von dieser Welt

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Vollkommen in Trance: Aretha Franklin in „Amazing Grace“
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Wer sich ernsthaft für die afro-amerikanischen Ursprünge der Popmusik interessiert, sollte diesen Film gesehen haben, der dokumentiert, wie die „Queen of Soul“ in das Biotop ihrer Kindheit zurückkehrt: die Kirche. „Amazing Grace“ heißt der Film, der einen Mitschnitt des berühmten Konzerts zeigt, das Aretha Franklin 1972 in der New Temple Missionary Baptist Church in Los Angeles gegeben hat. „Amazing Grace“ zeigt Aretha Franklin auf dem Höhepunkt ihrer Kunst und entwickelte sich als Platte in den USA zum erfolgreichsten Gospelalbum aller Zeiten. Fast ein halbes Jahrhundert danach ist dieses Konzert nun auch in ausgewählten deutschen Kinos zu sehen.

Wir schreiben das Jahr 1956. Es ist das Jahr von Elvis Presleys „Heartbreak Hotel“ und Gene Vincents „Be-Bop-A-Lula“. Genau in diesem Jahr schneidet ein Gemeindemitglied der New Bethel Baptist Church in Detroit ein Kirchenkonzert der vierzehnjährigen Tochter des berühmten Predigers C.L. Franklin mit. Als im Laufe der Zeit diese Tochter zur „Queen of Soul“ herangereift war, hat man diese Aufnahmen veröffentlicht. Der große Elvis-und-Soul-Music-Experte Peter Guralnick merkte dazu an: „Arteha Franklin hat später großartigere Kunst gemacht, aber sie hat nie großartigere Musik gemacht als diese, in der sie allein ihre nackte Stimme und ihre Gefühle offenbart.“

In Reverend C.L. Franklins Kirche gingen damals die Stars der Gospelmusik ein und aus. Mahalia Jackson und Clara Ward gehörten ebenso zu den Stammgästen wie Sam Cooke, der später die große Bürgerrechtshymne „A Change Is Gonna Come“ singen sollte. Und die kleine Aretha scheint den Idolen ihrer Kindheit genau zugehört zu haben. Ganz beseelt sang sie diese alten Kirchenlieder wie „Precious Lord“. Und immer klang bereits der Blues durch, der ihre großen Atlantic-Aufnahmen der Sixties grundieren sollte. Und schon damals hat sie sich selbst auch am Klavier begleitet, wie später bei einigen der schönsten Songs auf „Amazing Grace“.

Es war der große Plattenproduzent John Hammond, der Billie Holiday genauso wie Bob Dylan „entdeckt“ hatte, der Aretha Franklin 1960 bei Columbia Records unter Vertrag nahm. Dort hatten die Produzenten große Probleme, für sie einen eigenen Stil zu finden. Aber während dieser Jahre hat sie hart an ihrer Stimme und der Modulierung ihrer Phrasierung gearbeitet. Und sie bekam immer mehr das Gefühl dafür, was bei den Columbia-Aufnahmen (unter denen auch einige Perlen sind) schief gelaufen war. Erst Jerry Wexler hat sie 1967 bei Atlantic Records befreit, indem er sie wieder wie damals in der Kirche an ihr geliebtes Klavier setzen ließ. Und sie so ihr Songmaterial „transzendieren“ konnte, Lieder wie Goffin/Kings „(You Make Me Feel Like) A Natural Woman“.

Im Januar 1972, als Marvin Gayes legendäres Album „What’s Going On“ aus allen Lautsprechern erklang, kehrte Aretha Franklin zu ihren „Wurzeln“ zurück, in die Kirche. Ihr neuestes Album „Young, Gifted & Black“ hatte sie gerade abgeschlossen, als sie sich für ein Gospelalbum als nächstes Projekt entschied. Das sehr weltliche „Rock Steady“ war noch in den Charts, als sie in der Kirche komplett wieder zum Teil der „Community“ wurde. Der „Lord“ war in dieser Inszenierung offensichtlich wichtiger als die „Queen of Soul“, wie der Film zeigt, der eine lange Vorgeschichte hat. Ursprünglich war er geplant als Teil der Vermarktungskampagne von „Amazing Grace“. Der berühmte Regisseur Sydney Pollack hat die Veranstaltung für Atlantic Records und Warner Bros mitgefilmt. Aber er machte bei den Aufnahmen einen unverzeihlichen technischen Fehler und so verschwand das ganze Material im „Keller“ von Warner. Irgendwann war das ganze Filmprojekt vergessen. Erst 1999 hat David Nathan, der „Ambassador of Soul“, in seinen Liner Notes zu einer Special Edition von „Amazing Grace“ wieder an dieses Material erinnert. Und es dauerte noch einmal fast zwei Jahrzehnte, bis Fans des Albums das Material aus seinem Dornröschenschlaf erlösen konnten. Weil Pollack damals geschlafen hatte, wurde sein „Credit“ zurecht durch einen neuen ersetzt: written and produced by Alan Elliott. Auch Spike Lee konnte übrigens von den „Fans“ als Co-Produzent an Bord geholt werden.

„Amazing Grace“ selbst ist eine Mischung aus weltlichen Gesängen und Gospelsongs. Ganz beseelt singt Aretha Franklin hier die eins­tige „Carousel“-Hymne „You’ll Never Walk Alone“ genauso wie Carole Kings „You’ve Got A Friend“. Höhepunkt in dieser weltlichen Sektion ist allerdings ihre Version von „Wholy Holy“. Es ist vermutlich die beste Cover-Version eines Marvin-Gaye-Songs, die je aufgenommen wurde. Aretha Frank­lin löst den Song aus dem „What’s Going On“-Kontext und bringt ihn in vollkommener Trance in die Kirche zurück. Als der Film auf der Berlinale lief, gab es danach auch einige Podcasts zu dem Film.

Es war erschreckend, mit welcher Ignoranz gegenüber der afro-amerikanischen Kirchenkultur allgemein und Aretha Franklin im Speziellen einige Kritiker reagierten. Man war bei diesem „Event“ dabei und hatte absolut nichts dazu zu sagen. Mich hat das sehr bewegt, und ich erinnerte mich daran, dass im deutschen Rundfunk um 1972 herum „Amazing Grace“ nur in einer schottischen Dudelsack-Version in Dauerrotation lief und nicht in der innigen Darstellung Aretha Franklins. Wer die Gospelfassung hören wollte, musste auf AFN umschalten. Es ist jedenfalls Fans zu verdanken, dieses großartige Filmdokument afro-amerikanischer Musikkultur gerettet zu haben – einen „magischen Moment“ in der Geschichte der „Lady Soul“.

  • „Amazing Grace“ ist seit 28. November in ausgewählten deutschen Kinos.

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