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Ereignis und Erlebnis

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Gregorianisches Requiem: Missa de profundis (6 Choräle)Tibetische Mönche: Yamantaka Ritual; Mahakala Ritual (5 Mantras) W.A. Mozart: Requiem d-Moll, KV 626 {Süssmayr-Version); Schola Gregoriana der Domkirche St. Eberhard, Stuttgart; Leitung: M. Dücker. Network Medien 41.867; über 2001 Allem Gerede von Relativisten zum Trotz gibt es Universalien oder anthropologische Konstanten, die in fast allen Kulturen der Menschheit rituellen Status haben. Konstanten können deshalb Segmente eines Kulturdialogs werden, weil sie Analogien bergen. Zu diesen gehört die religiöse Imagination eines postmortalen Zustands, eines transzendenten Seins. Analog sind gewisse Segmente der christlichen Todesmetaphysik und die des tibetischen Buddhismus, nämlich u.a. Furcht, Reinigung, Verheißung und Licht. Der Publizist und Promoter J. - E. Berendt hatte die Idee, diesen gemeinsamen religiösen Fundus in Kontakt zueinander zu bringen, und zwar in Form eines Konzerts, bei dem ein klassisches okzidentales Requiem, das von Mozart, und ein klassisches orientalisches Requiem, das der tibetischen Mönche des Klosters Tashi Dhargye, konfrontiert werden. Wobei Gregorianische Gesänge einen ergänzenden Rahmen bilden. Musik ist in diesem Kontext also das Medium, in dem zwei Rituale einen Dialog aufnehmen. Auf einer Doppel-CD mit dem Titel „Rituale der Wandlung“ ist dieses Konzert dokumentiert. Sind die religiösen Analogien noch über die Texte nachvollziehbar, so könnte die Musik kaum gegensätzlicher sein. Hier die (im europäischen Sinn) vollendete Schönheit des Mozart-Requiems, dort (für europäische Ohren) eine dunkle Deklamation von Mantras. Diese musikalischen Differenzen zu pointieren wäre jedoch unangemessen. Vielmehr zeigt sich folgendes: Beide Werke entfalten - wie Berendt in seinem informativen Essay zu diesem Projekt treffend bemerkt - eine betörende Intensität. Mozarts Komposition glüht geradezu, weil Chor, Orchester und Solisten sich quasi von der Atmosphäre dieses Konzerts vereinnahmen lassen. Die tibetischen Mönche wiederum steigern ihren auf minimale Modulationen basierenden mehrstimmigen Untertongesang zu einem kaum glaublichen Volumen. Ihre Katakomben - Stimmen, bei deren extremer Tiefe die Töne sich wie in Amplituden des normalen Herzschlags kräftig und nachhaltig bewegen, hören sich an, als ob der gesamte Körper vibriert. Und dennoch ist bei diesem sehr untergründigen Dialog eines offensichtlich: der buddhistische Gesang ist eine kulturelle Zeremonie, ein durch Meditation reproduzierbares kollektives Erlebnis, dessen Grenzen durch den Text, nicht die Musik, gesetzt sind. Der Gesang selber ist wie ein probeweiser Übergang zum Tod. Mozarts Requiem ist eine artifizielle Devotion, die den Tod zum Ereignis objektiviert und dessen Grenzen durch die Form bestimmt sind. Die Musik ist sozusagen die Anschauung des Todes. „Rituale der Wandlung“ ist ein bisher einzigartiges und herausragendes Konzert. Musik wird in Form eines disparaten Dialogs zum Wegweiser für ein übergreifendes Kulturverständnis.

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