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„Kerosin95“. Foto: mindjazz pictures

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Zwischen Zuckerbude und Kadaverfabrik

Untertitel
Philipp Jedickes musikalisches Wien-Porträt „Vienna Calling“
Vorspann / Teaser

Ein Wien-Film der Sonderklasse: „Vienna Calling“. Der Titel ist natürlich eine Anspielung an einen Austropop-Klassiker des exzentrischen Popwunderknaben Falco. Wenn man will, kann man die musikalischen Protagonisten dieses Films als Falcos Erben sehen. Der Regisseur des Films hat zuvor einen sehr schönen Film über den kanadischen Musiker Chilly Gonzales gedreht, der gewissermaßen der Urenkel des Klavier-Entertainers Victor Borge ist: „Shut up and play the piano“. In beiden Fällen spielen all diese „Ahnen“ aber kaum eine Rolle. Manchmal aber spuken in seinen Filmen ihre Geister herum.

 

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Eigentlich würde man in einem Film über die aktuelle „Wiener Szene“ Bands wie Wanda oder Bilderbuch erwarten, aber diese waren „verhindert“. Was ein Glücksfall war, denn sie hätten all die anderen kleinen „Stars“ an den Rand gedrängt und damit das Bild von Jedickes Wien verschoben. Und auch wer historische Aufnahmen von den alten Austropop-Helden erwartet, wird hier angenehm enttäuscht. „Vienna Calling“ funktioniert vor allem als filmische Fußnote zur großen „Austropop“-Ausstellung im Wiener Theatermuseum, die Ende des Sommers zu Ende ging. Wenn man im tollen Katalog blättert, den Marie-Theres Arnbom im Amalthea-Verlag herausgegeben hat, kann man viele der Bildmotive wiederentdecken, die im Film auftauchen. Ein Kapitel im Katalog dreht sich um das Theatralische im Austrop. „Mulatschag im Café Passé“ nennt Walter Gröbchen seinen Essay über Drahdiwaberl & Co. Der Mulatschag ist ein Trinkgelage, bei dem am Ende das Geschirr zertrümmert wird. Daran musste ich denken, als ich den Film sah.

Im Film jedenfalls wird viel ge­tschickt und gesoffen. Aber auch viel gemalt und gehandwerkt. Ach ja, Musik wird auch noch gemacht. Und man kann auch dem ehemaligen Haareschneider von Falco bei seiner Arbeit zusehen. Dem „Nino aus Wien“ verpasst er sanft eine „Haareregulation“, wobei er tatsächlich den zweiten Begriff englisch ausspricht. Hat Johann Hölzel sein anglisiertes Wiener Kauderwelsch vielleicht sogar damals von seinem Leibfriseur übernommen? „Der Nino aus Wien“ jedenfall will lieber eine Beatlesfrisur als eine Falco-Tolle. Zu den „Attraktionen und Sensationen“ des Films gehört dann auch seine Lieddarbietung eines Wolfgang-Ambros-Klassikers. Wie er da so schön beiläufig die „Blume aus dem Gemeindebau“ besingt, das ist schon herzzereißend. Es erinnert ein wenig daran, wie Hans Moser in den alten Wien-Filmen Heurigen-Lieder wie „Mei Naserl is so rot weil ich so blau bin“ anstimmt. Wie gesagt, es wird viel gesoffen in diesem wunderbaren Film.

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Foto: mindjazz pictures. Aus dem Untergrund ans Licht: Voodoo Jürgens

Foto: mindjazz pictures. Aus dem Untergrund ans Licht: Voodoo Jürgens

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Regisseur Jedicke inszeniert sich als „Drifter“ durch die Wiener Szene zwischen Zentralfriedhof und Schmauswaberl. Und irgendwie spukt dann auch noch der „Dritte Mann“ im Film herum. Voodoo Jürgens entsteigt bei ihm aus dem Untergrund durch eine Litfasssäule. Wobei man das weniger als filmisches Zitat sehen mag, denn Jedicke beobachtet nur einen Künstler bei der Arbeit. In diesem Fall geht es um die Organisation eines Musikevents im „Untergrund“. Und in diesem „Untergrund“ der Seele von Wien treibt sich der Regisseur dieser „Szene“ die ganze Zeit rum, zwischen Donaulände und Peepshow, in der ein Musiker mit Häschenohren dem hochverehrten Publikum sein Liedgut präsentiert. Ein bisserl erinnert das alles an Ulrike Ottingers großartigen Film über den Wiener „Prater“. Die Musikerin „Kerosin95“ im bizarren Brautkleid mag man da als „Schwester“ sehen von Veruscha von Lehndorff im Barbarella-Kostüm bei der Ottinger. Vieles spielt sich in dieser „Stadt der Träume“ zwischen „Prater und Psychiater“ ab, wie es an einer Stelle heißt. „I man i dram“, so hieß einer der ersten Austrop-Hits von 1970. Ein „Ohrwaschlkräuler“ der ersten Stunde, der schön die bekiffte Stimmung dieses Films beschreibt.

„Vienna Calling“ lebt vom Zungenfall der Protagonisten, die hier singen, rappen, erzählen und – rauchen. „Ganz Wien träumt von Kokain“ sangen einst Georg Danzer und Falco. Heute liegt eher in „ganz Wien“ ein süßlicher Geruch in der Luft. „Es geht immer ums Vollenden und den Superbowl“ heißt ein wunderbares mäanderndes Lied vom „Nino aus Wien“. Er hat in dem Film dann auch das letzte Wort. Eigentlich würde es ihn immer ans Meer ziehen, erzählt er da. Aber er würde dann doch lieber in Wien bleiben, immer auf der Suche nach einer „Medizin“. „Vienna Calling“ läuft ab 16. November in deutschen Kinos.

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