Es war einmal zu einer Zeit, die frei war von IT und Netzwerkideologie – damals erlebten die Menschen ihre Musik im Gottesdienst, in Salons, in einer überschaubaren Zahl von Konzertsälen weltweit. Und sie erlebten die Musik ihrer Gegenwart. Ideologisch verbrämte alte oder neue Musik gab es nicht. Klarerweise gab es Streit über ästhetische Grundlagen.
Freilich erlebten viele Kompositionen einmal pro Menschenleben eine einzige Aufführung. Statt zum trimedialen Knopf zu greifen strengten Menschen ihren Kopf an – und ihre Finger, griffen zum Klavierauszug, um die Musik der Wahl nicht nur zu imaginieren - wie beim Partiturstudium - sondern in Teilen wenigstens mithilfe der eigenen Fingerfertigkeit zu verklanglichen. Seit es Tonträger gibt - noch nicht so furchtbar viel länger als ein Jahrhundert -, lässt sich alles abrufen, vergleichen, nachmachen.
Das lässt sich aber auch positiv sehen, nämlich dergestalt, dass die komponierte Musik früherer Zeiten immer wieder und aufs Neue danach verlangt, spannend dargestellt, interpretiert, ausgelegt zu werden, anders und womöglich weiter gedacht als beim Mitbewerber. Ohne solche Grundlegung wäre sie längst am Ende. Trotz so vieler allerbestens ausgebildeter Interpreten und Interpretinnen. Von denen es weltweit noch nie so viele gab wie heute. Auch auf diesem höchsten Niveau sondert sich freilich die Spreu vom Weizen. Denn nur schnell, langsam, laut, leise, kontrastreich kann es nicht sein, was Musik ausmacht. Auch und gerade wenn und weil eben die Mode des instrumentalen Höchstleistungssports im Raster der Tempomaximierung an eine Grenze zu kommen scheint, öffnen sich Ohren und Sinne für Haltungen früherer Interpretengenerationen.
Die ja auch nicht alle, nur weil das alles alt ist, langsam gespielt haben. Da liefern Furtwängler, Reiner, Toscanini, Fricsay – um nur diese vier zu nennen – fulminante Gegenbeispiele. Und wenn denn „Tiefe“ ein Kriterium für die erklingende Darstellung von Musik ist - so tief haben die Genannten denn auch nicht gebohrt…
Bei Bruno Walter dagegen ist für manchen seiner Kritiker der Bohrer zu weich, der vertikale Vortrieb desselben nicht intensiv genug, das Gemüt ist zu großflächig, der Intellekt dagegen zu knapp aktiv, zu sparsam gesetzt. Gerade das aber ergibt eine spannende Gemengelage. Aus einer Zeit lange vor d e r großen Aufklärung, die sich authentisch nennt oder historisch (korrekt) oder wie auch immer. Das hat bekanntlich unendlich viel gebracht an Erkenntnisgewinn, an Klarheit, an neuen Dimensionen des Hörens, des akustischen Wahrnehmens zwischen alter Musik und ihren gegenwärtigen Ausprägungen. Doch dass zuvor auch schon überaus bedeutende Musiker aktiv waren, lässt sich dadurch nie und nimmer vergessen machen.
Aus historischen Schätzen hievte die EMI zum fünfzigsten Todestag des wahrhaft großen Dirigenten für seine ICON-Serie musikalisches Material aus Archiv-Kellern für bemerkenswerte neun CDs. Das ist zwar ganz und gar nicht der ganze Bruno Walter. Aber die Musik, der sich jener sozusagen „jüdische Anthroposoph“ verpflichtet fühlte, ist präsent: Mozart und Mahler – dessen Zeitgenosse er war – zuerst. Aber auch Schubert, Haydn, Beethoven, Wagner. Dass Aufnahmen aus den teils frühen dreißiger Jahren trotz aufwändigen technischen Upgradings nicht den verwöhnten Ohren des dritten Jahrtausendbeginns reinstes Glück gewähren, liegt im Kern des Deals. Doch was würde der Mozart-Darstellung, der Mahler-Auslegung (dessen „Zögling“ und „wahrer Prophet“ er war) fehlen, ohne Bruno Walters Blick in dessen Partituren und Seelenlagen.
Nach Aussage von Zeitgenossen war der „milde Mensch“ nicht zu schweißtreibender Aktivität veranlagt, weder agierend am Pult noch reagierend im zwischenmenschlichen Bereich. „Ich bin noch nicht ganz glücklich“ habe er gesagt während der Probenarbeit. Und das sei der „größte Wutanfall“ des Dirigenten zeitlebens gewesen. So erleben wir rückwärts hörend seinen Mozart, sanft und seelenvoll und liebevoll zugewandt. Dieser Mensch, voller Sensibilität in all seiner Musikalität und in all seinem seelenvollen Tun und Lassen, wurde 1876 in Berlin als Sohn einer deutsch-jüdischen Familie geboren. Studium in der Heimatstadt, Debüt in Köln, Assistent von Gustav Mahler in Hamburg, Knochentour durch die deutsche Provinz als Opernkapellmeister, Wiener Hofoper, GMD in München und Berlin, Gewandhauskapellmeister in Leipzig, Direktor der Wiener Staatsoper. Während der Emigration avancierte er zum Chef von NYPhil.
Zum Ende der fünfziger Jahre nahm er noch einmal zahlreiche Werke des klassisch-romantischen Kernrepertoires mit „seinem“ Columbia Symphony Orchestra auf. Das Walter'sche Oeuvre ist fast so facettenreich wie die Topographie seiner Biographie. Vor fünfzig Jahren starb er in Beverly Hills, California. Beerdigt wurde er auf dem wundervoll platzierten Friedhof im tessinerischen Montagnola, oberhalb des Luganer Sees. Einige Jahre zuvor erschien (neben zahlreichen anderen Publikationen davor und danach, die das Terrain von der Anthroposophie bis zum Mahler-Universum lesenswert abdecken) sein wundervolles Buch „Von der Musik und vom Musizieren“ (Frankfurt am Main, 1957), das in verbalisierter Variante seine Sicht der Dinge unverwechselbar darstellt – mit Aussagen, die selbst am Beginn des dritten Jahrtausends wahrlich bedenkenswert sind.
Diese EMI-Edition nun lässt den Bruno Walter der dreißiger Jahre neu aufleben im Gedächtnis. Und wenn da die eine falsche Note des Pianisten Bruno Walter mit überliefert wird oder die andere Ungenauigkeit des Zusammenspiels, so ist das irrelevant, denn die seelische Tiefendimension aller Musik klingt aus diesen technisch aufgemotzten Produkten trotz aller Zergliederung ergreifend bis in unsere Tage hinein. Die in der Tat so manches mehr wissen über Musik, rein faktisch. Vieles davon wusste Bruno Walter freilich schon – intuitiv. Das ist hier zu erleben, zwischen Mozart-Requiem und Mahlers „Neunter“ zum Beispiel.