Da kämpft einer. Und er hat noch immer eine ordentliche Wut im Bauch. Das überrascht, denn üblicherweise hat man Wynton Marsalis aus europäischer Fernsicht als Armani-Jazzer in Erinnerung, als jemanden, der als Kopf des Jazz-Departments am New Yorker Lincoln Center längst Teil des Establishments geworden ist. „Moving on Higher Ground. How Jazz Can Change Your Life“, sein Grundlagenstatement zur kulturellen Verfasstheit der Nation, das 2008 in USA erschienen und nun unter dem Titel „Jazz, mein Leben. Von der Kraft der Improvisation“ auch auf Deutsch zu lesen ist, zeigt aber einen anderen Marsalis, einen Überzeugungstäter, der an die kreative Kraft im Menschen glaubt, sie jedoch mehr und mehr verwässern und schwinden sieht.
Schnösel with Attitude
Distanz liegt ihm fern. Das ganze Buch ist aus einer Haltung der Empathie heraus geschrieben, die Marsalis offen, aber auch befangen werden lässt. Denn als begeisterter Pädagoge betont er zum einen die schier grenzenlosen Möglichkeiten, die Jazz als Musik und basisdemokratische Kommunikationsform den ausübenden Künstlern bietet. Seine eigene Biografie, die von der liberal bürgerlich, Bildung und Toleranz betonenden Stimmung in der Familie ebenso wie von den Ausläufern der Bürgerrechtsbewegung und des schwelenden Rassismus geprägt ist, macht ihn in seinen Urteilen allerdings zuweilen zu einem Kulturpessimisten, der weder am Musikbusiness und dessen Pop- und Rockderivaten, noch an der künstlerischen Grundkompetenz der amerikanischen Bevölkerung etwas Positives findet: „Heutzutage hat der durchschnittliche schwarze Amerikaner weder Ahnung noch Verständnis für das vielfältige Erbe der afroamerikanischen Kultur. Er weiß nicht einmal, dass es etwas zu wissen gäbe. Bekanntlich sind wir über den Rap und verfälschte Kirchenmusik wieder bei den Minstrelshows angelangt. Jetzt singen die Leute über Jesus und reiben dabei die Hüften aneinander. Traurig für Schwarze und noch trauriger für unser Land, denn schwarze Amerikaner nehmen in unserer nationalen Identität eine zentrale Position ein“ (S. 76).
Was klingt wie schopenhauersches Sinnieren über Verworfenheit der Gegenwart, ist strukturell nichts anderes als das uramerikanische Muster des Messianismus. Wynton Marsalis hatte das Glück, im Jazz seine Erleuchtung zu finden. Er ist gegen manche Mauern gerannt, hat in den Musikern aber zumeist Leute gefunden, die die Überheblichkeit des jugendlichen Virtuosen mit Wärme, Vertrauten und Erfahrung abgefedert haben. Marsalis hat Jazz damit als ausgleichendes und humanistisches System erfahren, in dem letztlich gilt, was du kannst, nicht, wer du bist. Das wiederum ist ihm zum Wert geworden, zu einer Tugend und einem persönlichen wie nationalen Identifikationsangebot, das er mit allen Programmen seiner Ensembles, des Lincoln Centers und nun auch mit seinem Buch vermitteln will: „Jazzmusik ist die Vergangenheit und das Potential Amerikas, und sie ist für jeden offen, der lernt, ihr zuzuhören, sie zu fühlen und sie zu verstehen. Diese Musik kann uns mit unserem ehemaligen und unserem zukünftigen, besseren Selbst verbinden. Sie kann uns in Erinnerung rufen, wo auf der Zeitleiste menschlicher Errungenschaften unser Platz ist: Das ist der ultimative Wert von Kunst“ (S. 31).
Jazz als Lebenshilfe
Man mag ein wenig lächeln angesichts der (verfassungskonformen) Linearität, mit der Wynton Marsalis Jazz und Glück in einen Kausalzusammenhang bringt. In manchem aber hat er durchaus Recht. Kulturelle Bildung liegt weltweit im Argen. Surrogate und Derivate dominieren die Unmittelbarkeit der Erfahrung. Jazz als aktives, reflektiertes, kommunikatives und tolerantes Kulturerleben kann Menschen Halt geben, wie vieles andere auch, das sich nicht mit der Nachahmung zufrieden gibt. Um diese Grundeinsicht zu unterstreichen, bietet sein Buch viele unterhaltsame und erhellende Momente, versucht mit Anekdoten zur Geschichte und Erläuterungen zu Fachbegriffen, mit Hintergrundwissen und ästhetischen Orientierungspunkten etwa im Kapitel „Meisterlektionen“ bei den Lesern Begeisterung zu entfachen. In diesen Momenten ist Marsalis ein Prediger im Dienste der Musik, der nicht an den Details mäkeln, sondern die Kunst insgesamt stärken und verständlich machen will. Seine Botschaft ist nicht der Zweifel, sondern das Ausrufezeichen. Sie ist die Forderung nach mehr erlebter Kunst, mehr aktiver, erfahrbarer Musik im Alltag. Und schon allein deshalb ist „Jazz, mein Leben“ bei aller Rhetorik ein gutes, auf seine Weise ehrliches und sachdienliches Buch.