„Das“ Mittelalter gibt es ebensowenig wie es „die“ Neuzeit gibt – der Engländer spricht von „the middle ages“ wenigstens im Plural. „Mittelalter“ (das finstere zumal) ist so oder so ein allzu loses Etikett, mit dem wir aus Bequemlichkeit oder Ratlosigkeit eine Periode zwischen dem Zerfall des römischen Weltreichs und dem Anbruch der Renaissance bekleben und damit einen Zeitraum von eben mal tausend Jahren über einen Kamm scheren. Sprechen wir also lieber, wie im Angelsächsischen, von „Früher Musik“.
Abgesehen von kargen romanischen Kirchen und himmelstürmenden gotischen Kathedralen, deren Mauern verblichene Fresken zieren, sind herzlich wenige Zeugnisse aus jener weit zurückliegenden Zeit unserer direkten Erfahrung, geschweige denn unserem unmittelbaren Begreifen zugänglich. Machen wir uns also nichts vor: Immer, wenn wir als Menschen des 21. Jahrhunderts versuchen, so genannte Musik des Mittelalters aufzuführen, kommt dabei unter der Hand Musik von heute heraus. Unsere Hörerfahrungen von Gesualdo bis Gubaidulina (von elektrifizierten Klängen zu schweigen!) können wir sowieso nicht mehr rückgängig machen.
Die Überlieferung
Der geringste Teil der Frühen Musik wurde notiert – und dies aus mehrerlei Gründen: Bis zur Erfindung einer Notenschrift wurde alle Musik mündlich weitergegeben, wobei die Texte als Eselsbrücke für die Melodien dienten. Als dann erste Notationsversuche erfolgten (Stichwort Neumen), waren damit trotz Zusatzzeichen längst nicht alle Parameter eines Stücks eindeutig fixiert – die Symbole bedurften, ähnlich wie die Bibel, der Auslegung durch Personen, welche mit der gesanglichen Tradition einer Region oder eines Ordens vertraut waren. Wir müssten in diesem Stadium statt von einer Notenschrift also zutreffender von Gedankenstützen für Eingeweihte sprechen, und dabei blieb es trotz schrittweiser, umfangreicher Verbesserungen im wesentlichen bis in die frühe Barockzeit. Eine etwaige Begleitung, wie zunächst alles Instrumentalspiel in einer Gruppe, haben die Musiker spontan improvisiert, sofern nicht einzelne (oder alle) Gesangsparts mehrstimmiger Kompositionen instrumental ausgeführt wurden.
Natürlich gelangen mediävistisch geschulte Musikwissenschaftler immer mal wieder zu neuen Erkenntnissen; diese jedoch stellen im Grunde bloß neue Hypothesen dar, welche die bisherigen ablösen. Dieser über weite Strecken fiktionale Charakter Früher Musik ist es natürlich, der sie zugleich so reizvoll macht: Der Kreativität der Ausführenden sind kaum Grenzen gesetzt, weil jede klingende Umsetzung der oft zufällig auf uns gekommenen Quellen ein gerüttelt Maß Eigenleistung erfordert – sie versuchen sich an einer musikarchäologischen Rekonstruktion, die nicht mehr sagt als: „So könnte es damals geklungen haben, vielleicht aber auch ganz anders.“ Authentizität kann also kein Ensemble für sich beanspruchen; dessen Ansatz soll durchaus den Fachmann zufrieden stellen, vor allem jedoch dem Praktiker einleuchten.
Folglich können Tonträger, auf denen solches Repertoire festgehalten wurde, nicht im strengen Sinne rezensiert werden. Der Autor wird sich vielmehr darauf beschränken, zu referieren, welches Repertoire ausgesucht wurde, welche Kräfte (vokal/instrumental) musizieren und ob der Gesamteindruck ihn überzeugt hat. Meinem Auswahlprozess haben acht CDs aus den letzten drei Jahren standgehalten. Ob nun historisch korrekt oder nicht – von der klingenden Evidenz musste eine starke Faszination ausgehen.
Die Anthologien
Eines der anspruchsvolleren Vorhaben der letzten Zeit nahm Carles Magraner mit seiner Capella de Ministrers in Angriff, um die Rolle musizierender Frauen im Mittelalter darzustellen. Weil die zwanzig Titel des Doppelalbums „La Cité des Dames“ (nach dem gleichnamigen, proto-feministischen Roman der Christine de Pizan, 1405) über gut 100 Minuten hinweg einen zeitlichen Bogen spannen, der (nicht einmal chronologisch!) von Kassia (9. Jh.) bis Gracia Baptista (1557) reicht und mehrere Länder und Sprachen umfasst, droht die Gefahr der Beliebigkeit. Da aber mehrere Sängerinnen sich die (größtenteils einstimmigen) Aufgaben teilen und fünf (Multi-)Instrumentalisten im Einsatz sind, wird es wenigstens nie eintönig, zumal die in einem Kirchenraum installierte Klangtechnik sorgfältig arbeitete und die Ausstattung luxuriös geriet: Die CDs stecken in einem illustrierten Hardcoverbuch (120 Seiten samt Lesebändchen) mit allen gesungenen Texten – leider nur in Spanisch und Englisch. Hoffentlich betrifft der mir vorliegende Fehldruck – er steht auf dem Kopf und ist von hinten nach vorne zu lesen – nur einzelne Exemplare (CdM 1333).
Alfonso X. „El Sabio“, König von León und Kastilien, ließ um 1264 ein berühmtes (später mehrfach erweitertes) Kompendium mit schließlich 419 geistlichen Liedern zusammenstellen, welche der Marienverehrung gewidmet sind; einige davon verfasste er angeblich sogar selbst. Aus diesen „Cantigas de Santa Maria“ hat die Sopranistin, Harfenistin und Ensembleleiterin Hana Blažíková ein Programm zusammengestellt, das textlich immer dort kurzweilig ausfällt, wo Geschichten von der Wundertätigkeit Mariens erzählt werden; musikalisch geriet es eher puristisch, ja geradezu preziös: Eine zweite Sopranistin (Barbora Kabátková) spielt ebenfalls Harfe, und eine dritte Musikerin (Margit Übellacker) hat sich auf mittelalterliche Hackbrett-Varianten spezialisiert. Abgesehen von den seltenen Auftritten eines Perkussionisten bekommen wir hier also nur zwei ähnlich timbrierte Frauenstimmen und dazu Saiteninstrumente zu hören. Soviel Wohl- und Schönklang ist der Andacht gewiss förderlich, schrammt aber haarscharf an einer New-Age-Ästhetik vorbei. Die Darbietungen selbst sowie die viersprachige, auch optisch ansprechende Präsentation allerdings verdienen ein klares Lob (PHI LPH 017).
„Trobar & Joglar“ nennt sich das erste Projekt des bewährten französischen Kernduos Alla francesca, das durchgehend in Okzitanisch gehalten ist, also in der langue d'oc, der Sprache der Troubadoure, welche dem Landstrich am Fuße der Pyrenäen den Namen lieh. Brigitte Lesne (Gesang, Psalterium) und Pierre Hamon (Flöten, Dudelsack) werden hier von einem Perkussionisten sowie einer weiteren Sängerin (die auch Drehleier und Fidel spielt) darin unterstützt, die fließenden Übergänge zwischen Dichtersängern und Jongleuren („Spielleuten“) zu beleuchten, welche im südlichen Frankreich des 12. Jahrhunderts ein von der harten Alltagsrealität positiv abweichendes, respektvolles Bild der Beziehungen zwischen Mann und Frau entwarfen. Dabei entstand eine durchweg spannend musizierte, nicht bloß virtuose, sondern auch stimmungsvolle, noch dazu high-fidele Ansprüche befriedigende Aufnahme. Einziger Wermutstropfen wiederum: das diesmal französisch-englische Booklet, welches sogar die auf jedem einzelnen Stück erklingenden, für uns exotischen Instrumente auflistet – jedoch nur mit ihren französischen Namen (agogique AGO 017*).
Auch unsere nächste CD befleißigt sich – neben Latein und Arabisch – der okzitanischen Sprache, leider bloß in französischer Übertragung, während die (etwas unergiebige) Einführung immerhin in englischer Übersetzung vorliegt. (Mit deutschen Interessenten hat man bei unserem Nachbarn auch hier nicht gerechnet.) Bei „Reis Glorios“ (ruhmreicher König) handelt es sich um eine relativ groß besetzte Produktion des in Toulouse ansässigen Bläserensembles Les Sacqueboutiers (die Dudelsackpfeifer), welche den Einfluss der arabischen Musik auf die okzitanische Mythologie an akustischen Beispielen demonstriert. Zwei stilistisch komplementäre Baritone, vier Bläser, ein Saitenspieler sowie ein Schlagwerker geben dieser rhythmusfreudigen Aufnahme, die auch einen viertelstündigen Auszug aus dem berühmten „Libre Vermell de Montserrat“ enthält, ein ganz eigenständiges Gepräge: Das Spektrum reicht von der feierlichen Untermalung einer Prozession bis zum intimen Lautenlied. Inwieweit die Araber nach ihrer Vertreibung aus Spanien wenigstens kurzzeitigen Einfluss auf die südfranzösische Kultur nehmen konnten, bleibt zwar Gegenstand der Spekulation, aber dass orientalische Errungenschaften auf das christliche Abendland eingewirkt haben, ist kaum zu bestreiten; man denke bloß an die Zahlen oder die Laute Oud (Flora 3916*).
Unter der Sammelbezeichnung „Motets“ hat das von Björn Schmelzer geleitete Ensemble Graindelavoix die abschließende Folge einer Trilogie herausgebracht, die sich aus mehreren Blickwinkeln mit Villard de Honnecourt beschäftigt, einem Kathedralenbaumeister aus dem 13. Jahrhundert. Die fast immer anonym überlieferten Motetten entstammen dem nordfranzösischen Cambrai-Manuskript und vertonen in ihren drei Stimmen unterschiedliche Vorlagen, teils in lateinischer Sprache und geistlichen Ursprungs, teils auf französisch und dann mit einem weltlichen Thema. Die drei simultan erklingenden Texte unterscheiden sich überdies in ihrer Ausdehnung, werden aber auch in unterschiedlich langen Notenwerten vorgetragen, damit alle Vortragenden synchron ans Ende des Stückes gelangen. Dieses reichlich artifizielle Verfahren, über dessen Herkunft und tieferen Sinn uns der auch in guter deutscher Übersetzung reichlich verquaste Booklet-Essay im Ungewissen lässt, diente wohl kaum der Textverständlichkeit; der musikalischen Wirkung jedenfalls tat es keinen Abbruch. Je nach Bedarf bis zu elf Sänger und Sängerinnen, meist a cappella vortragend, seltener von Fidel und Laute begleitet, erwecken eine versunkene Epoche der geistlichen Musik aus dem Dornröschenschlaf (Glossa GCD P32109).
Die Porträts
Die Sopranistin Sabine Lutzenberger steht dem Quartett PER-SONAT vor, dessen Instrumentalisten Fidel, Dreh- und Streichleier, mittelalterliche Flöten und einen Dudelsack traktieren. Sangspruch & Minnesang von Walther von der Vogelweide (ca.1170-ca.1230) haben sich die vier unter dem Titel „Lieder von Macht & Liebe“ auf ihrer aktuellen CD vorgenommen, und dank der höchst unterschiedlichen, auch politisch brisanten Themen, die Walther in seinen raffiniert betexteten Liedern behandelt, und den stets wechselnden Klangkombinationen präsentiert sich der bedeutendste deutsche Dichter des Hochmittelalters in denkbar vorteilhaftem Licht. Dass die Mehrzahl der Melodien rekonstruiert werden mussten, tut dem keinen Abbruch. Auch durch die suggestiven Klangfarben des Ensembles gelang hier eine für das Genre besonders überzeugende Einspielung, deren improvisierte Partien hörbar folkloristischen Modellen folgen (Christophorus CHR 77394).
Baptiste Romain ist sowohl Mitglied von PER-SONAT wie vom Ensemble Leones des Lautenisten Marc Lewon, dessen Stammpersonal fünf Personen umfasst. Auf „The Cosmopolitan“ stellen die „Löwen“ 16 Lieder des weitgereisten Tirolers Oswald von Wolkenstein (1377-1445) vor. Die Überlieferung von Oswalds etwa 125 Liedern in Handschriften, die er teils selbst veranlasste, berücksichtigte glücklicherweise auch die Melodien; daher haben ihn auch schon Spezialensembles früherer Generationen wie Sequentia und das Studio der Frühen Musik mit eigenen Platten bedacht (mit denen es zum Glück kaum Repertoire-Überschneidungen gibt). Leider sind hier nur die Inhalte der Texte zusammengefasst, für den Wortlaut muss man das Internet bemühen. Aber auch mittels bloßem Lauschen bekommen wir über die Kluft von 600 Jahren hinweg mit, dass Oswald sich gerne in drastischer Weise artikuliert hat. Erfrischend auch, dass hier ein Mann – Lewon – seine Stimme erhebt. Daneben singen auf der CD auch drei Frauen und begleiten sich bisweilen selbst, wie damals und heute bei Liedermachern üblich. Besonders interessanten Effekt machen die zweistimmigen, meist unbegleiteten Gesänge, die Einflüsse der französischen Ars Nova (Machaut) verraten (Christophorus CHR 77379).
Marc Lewon wiederum fungiert als einer der drei Stammmusiker im Ensemble Dragma. Dieses widmet sich unter der Überschrift „Kingdom of Heaven“ Heinrich von Laufenberg (ca. 1390-1460) und Anonymi seiner Zeit. (Von Heinrich selbst sind leider nur siebzehn Melodien erhalten geblieben – immerhin mehr als von Walther!) Als Geistlicher, ja Mystiker steckt Heinrich natürlich ein ganz anderes Terrain ab als sein dem Weltlichen zugewandter Zeitgenosse Oswald, aber die Deklamation der einem Werbefeldzug fürs „Himmelreich“ gleichkommenden Gedichte fasziniert ebenso wie ihre sparsame, aber stets angemessen wirkende musikalische Einkleidung; erstaunlich, dass eine Gesangslinie von simpler Bordunbegleitung derart profitieren kann! Wie stets bei Ramée glänzt die CD durch ihre geschmackvolle graphische Gestaltung, und das viersprachige Begleitmaterial erfüllt wissenschaftliche Ansprüche (RAM 1402).
(alle CDs im Vertrieb von Note 1, außer die mit * markierten Aufnahmen: Harmonia Mundi)