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Peter Rautmann, Nicolas Schalz (Mitarbeit: Victor Malsy, Uwe Rasch): Passagen – Kreuz- und Quergänge durch die Moderne, ConBrio Verlagsgesellschaft, Regensburg 1998, 2 Textbände, 1305 Seiten mit Abb., Beiheft „Farb-Klänge“ mit 2 CDs, 198 Mark.
Drei Bände gegen den Wind, Gegenbilder in Wort, Bild und Ton. „Texte und Zeichen“ hieß eine berühmte, seit langem nicht mehr bestehende Zeitschrift; Texte und Zeichen sind auch dies: Inszenierte Ausstellungen zwischen Buchrücken, Text-Montagen als Geist- und Blickfänge, Arkaden, Kabinette, Vitrinen, „Leseecken“ im begehbaren Lesebuch, eine Hommage an Walter Benjamins „Magie der ‚Ecke‘“ aus seinem „Passagen“-Fragment, die das „Zusammentreffen zweier verschiedener Straßennamen“ meint. Dazu für bescheidenere Flaneure ein kulinarisches Beibuch mit Reproduktionen von Bildern und Noten, die ebenfalls „Bilder“ sind, nicht durchgängig Handschriften wie bei Holliger, Uwe Rasch, Xenakis, aber immer Schreibweisen, und auf den CDs zu Klängen werden. Ich fürchte, mich in den Zeichen zu verlieren, folge wie vorgeschlagen den theorielastigen „Spuren“ (begehe mit dieser hierarchischen Wanderung einen „Fehler“, der hier nachlesbar sein wird), biege ab zu den Musikanalysen und eigenwilligen, zuweilen zweifelnd vorgetragenen Einschätzungen, biege nochmals ab auf die wortlosen Wege und beginne hinschauend zu hören, die eigene Hörerfahrung zu überprüfen, suche die „Widerstandslinien“ (Untertitel des Projekts) im „‚Neu-Lesen‘ der Moderne“ (S. 210), bemerke auch Lesarten, die hinter dem Lesestoff zurückzubleiben scheinen.
Suche nach dem Ariadnefaden
Ich sehe mich in einem Labyrinth von Kunst der letzten Jahrzehnte mit Rückgriffen auf bezeichnende Vor-Gänge aus früheren Zeiten (Goya/Mozart oder C.D. Friedrich, Delacroix/Berlioz), suche nach dem Ariadnefaden, glaube ihn schließlich gefunden zu haben in der Verweigerung einer Ordnung, die reguliert und zwanghaft bindet. Das Benjamin-Fragment der „Passagen“, vom Herausgeber Rolf Tiedemann ein Passagen-Werk genannt, liefert zwar Orientierungsmuster, aber zerschlägt sie auch wieder mit der Wucht der eigenen Zerrissenheit. Benjamins Zusammendenken von Fortschritt und Katastrophe, von Adorno und Horkheimer wiederaufgenommen, ist sicher eine zentrale Erfahrung des gelebten Jahrhunderts; sie berührt sich mit dem Begriff der „Interferenzen“, die man ästhetisch-philosophisch deuten kann „im Sinne von Verknüpfungen, Vermischungen, Ineinanderblendungen“ (S. 904) oder auch physikalisch nüchtern übersetzen mag als das Überlagern oder Auslöschen von Wellenbewegungen. Musikbezogen ließe sich der „Fortschritt“ problematisieren mit den auf Interferenz beruhenden „Schwebungen“, die bekanntlich sehr unangenehm sein können bei engen Zusammenklängen in tiefen Lagen. Benjamins „Passagen“-Fragment hat seine Gestalt nicht zufällig, und alles, was daraus abgeleitet wird, unterliegt dem gleichen Ineinander von Fortschritt und Katastrophe. Der Tod in Port-Bou, die Endgültigkeit des Unfertigen, hinterfragt jede noch so geglückte Stimmigkeit von Visionen und Strukturen.
Das an die „Passagen“ sich anlehnende „Lebens“-Werk – will sagen: die Widerspiegelung eines Lebens in Veränderung, hier die Moderne genannt – ist parteilich. Es nimmt Partei für die Sache der Kunst als eine, die eingreift ins Leben – ein „Denkbild“ des „Widerstands“ (zwei Kernwörter von Rautmann/Schalz). Der in unserer ökonomisch bestimmten Alltagswelt vielzitierten Kunst werden solche Fähigkeiten heute mit Berufung auf den Gang der Geschichte in der Regel abgesprochen. Im Zusammenhang mit „Widerstand“, „Denkbild“, auch (von Benjamin entlehnt) „dialektischem Bild“ und „Dialektik im Stillstand“, rückt die Kategorie der „Darstellbarkeit“ ins Blickfeld. Die Autoren brachten erstaunlicherweise den Mut nicht auf, sich der mittlerweile sinnentleerten Postmoderne-Diskussion zu verweigern, sondern übernahmen von Lyotard aus dessen erster Entgegnung auf Habermas 1982 die Idee der „Radikalisierung des Moderne-Verständnisses“ (S. 1190). Durch den Verweis auf ein Nicht-Darstellbares in der Darstellung selbst werde der Trost der gelungenen Form verweigert. Rautmann und Schalz nähern sich der postmodernen Aufweichung des Widerstands über einen kritischen Diskurs mit Wolfgang Welsch, der Jean-François Lyotard gegen Peter Weiss ins Recht zu setzen sucht (was mir ideologisch begründet scheint). Auf musikalischem Gebiet verfängt sich Schalz – gegen die eigene Intention – in analytischen Fallstricken von Darstellbarkeit.
Kaputte Welt
Keineswegs haftet Vinko Globokars „Miserere“, dem ersten Teil von „Les Emigrés“, „ein total überholter spät-materialistischer Gestus“ an und wesentlich zu kurz greift auch die Darstellung der „Miserere“-Musik als „das desillusionierte akustische Bild einer kaputten Welt“ (S. 571 f.). Vielmehr handelt es sich bei Globokars Arbeit als Komponist, Posaunist und Dirigent um die Verbindung von Musik mit sozialen und psychophysischen Lebensvorgängen (Bewußtseins- und Körper-Erfahrungen, nicht nur den eigenen). Seine Arbeit und ihre Stimuli sind nur im Ganzen des Triptychons zu beurteilen, womöglich nur in Kenntnis des Werk- und Lebensganzen; gekennzeichnet durch ein soweit wie möglich marktunabhängiges Außenseitertum. Ich vermag ferner nicht zu erkennen, warum Klaus Hubers „Erniedrigt – Geknechtet – Verlassen – Verachtet ...“ einerseits sein „oratorisches Hauptwerk“ genannt, andererseits daraus nur der tastende Übergang „zu etwas ganz anderem hin“ (S. 1041) abgeleitet wird. Dieses Verschweigen wird noch unverständlicher, wenn man die zeitgeschichtlich und ästhetisch wichtige Bild-Entsprechung bedenkt: Mathias Knauers Filmversion „El pueblo nunca muere“. Das Abseits dieses „Hauptwerkes“ hat mit einer zentralen und von den Autoren auch zutreffend eingeschätzten Kategorie Benjamins zu tun, dem „Erwachen“ aus dem Traum. In der Konstellation von Traum und Erwachen heben sie die „Kategorie des Erwachens“ hervor (S. 810). Schon im Exposé erwägen sie, dass es dem Komponisten Mathias Spahlinger ebenso „wie Benjamin um das ‚Erwachen’“ geht (S. 69); Spahlingers „passage/paysage“ für großes Orchester ist bildmusikalisch eine Art Mündungsort der „Kreuz- und Quergänge“. Wenn aber das Moderne „das Neue im Zusammenhang des immer schon Dagewesnen“ ist, wie es bei Benjamin heißt und von Rautmann/Schalz zitiert wird, wäre das rettende Erwachen aus dem Traum, registriert an einer selbstbewussten Kunst-Praxis, wohl nur gegen besseres Wissen als Weckruf der Lebens-Praxis einzuordnen.
Bei Benjamin ist die Sprache der Ort, an dem man auf die dialektischen, „nicht archaische(n)“ Bilder trifft; in den neu gedeuteten „Passagen“ wird man gleichsam aufgefordert, sich in die Klänge der Farben und die Farben der Klänge hineinzubegeben. Die Sprache spielt dabei eine mediale Rolle, derart, dass der Begriff des Bildes nicht nur in ihr, „sondern überhaupt in der Kunst... zu finden“ sei (S. 1241). Rautmann und Schalz beleben die Benjamin’schen Denkraster mit schwin-delerregenden Ausblicken und irritierenden Wiederholungen („Das ‚Moderne‘ die Zeit der Hölle“ bei Benjamin: Gemeint ist das unveränderliche „Gesicht der Welt“ im Erscheinen des jeweils Neuesten, also verpasstes Erwachen). Durch die leitmotivisch entlehnte Zitierpraxis hindurch gelangen sie in ihrer eigenen Passagenarbeit zu stupender Sinnlichkeit – dank des Rekurses auf die nacherzählten Kunstwerke. Neben das Narrativ-Mythische (S. 1136) – Adorno hat es, von Benjamin zitiert, „das Längstvergangene... im historisch Jüngsten“ genannt – tritt das „Ungesicherte“, „Undarstellbare“; treten dialektische Bilder, in denen Unerzähltes zur Selbstprüfung der Wahrnehmenden wird. „Dialektik im Stillstand“ als „Quintessenz der Methode“ (Benjamin) wird in der Kunst zum bewegenden Moment. Das „Dunkel des gelebten Augenblicks“ (Ernst Bloch) ist hell im Innern des der Kunst zugewandten Menschen. Eine idealistische Position? Die Objekte im Passagen-Durchgang sind zur Besichtigung und zum Neuerkennen freigegeben.
Abwehr des Antirationalen
Diese Objekte werden körperhaft „begreifbar“, aber nicht darstellbar. Sie sind – am Beispiel von Mark Rothko für die Bildende Kunst und Morton Feldman für die Musik – „nicht-mimetisch“ (S. 921 ff.). In beiden Künstlern war die jüdische Herkunft anhaltend wirksam. Der Mimesis-Begriff wäre sinnvoll in der von Adorno (in der „Ästhetischen Theorie“) abgewandelten Auslegung zu lesen: Mimesis in der Kunst benennt dort, was vortheoretisch, antirational, nicht identisch mit der im Alltag abgenutzten Rationalität ist. „Nicht-mimetisch“ wären dann nicht nur die Abstraktion oder (in der Musik) die Stille, sondern die Abwehr des Antirationalen ebenso wie die des Scheinrationalen; in dieser Haltung – nicht bloß im Bewusstsein der „Radikalität“ – träfen sich die unterschiedlichen musikalischen Schreibweisen der bei Rautmann/Schalz in diesem Zusammenhang genannten Komponis-ten Nono, Lachenmann, Spahlinger und Xenakis. Man könnte sagen, dass sie auf der Suche nicht nach der verlorenen, sondern nach der unvollendeten Zeit sind, „Zeit“ als historisches und als Bewusstseins-Phänomen begriffen.
Die Werkauswahl ist offen, gegen die Anmaßung des Enzyklopädischen gerichtet; zuweilen streift sie die Grenze der Zufälligkeit, was seit Cage keinen Tadel mehr bedeutet. Dennoch befremdet mich, dass im Falle einer Bremer „Carmen“-Inszenierung von Karin Beier und der Hamburger Uraufführung von Lachenmanns „Das Mädchen mit den Schwefelhölzern“ (S. 1218 ff.) die Grenze zwischen Werk und Wiedergabe verwischt ist. Ich kann mir eine ganz andere Lachenmann-Inszenierung vorstellen als die von Achim Freyer; Nicolas Schalz offenbar auch, denn er nennt Freyer, den Maler(!), nicht.
Gleichwohl wird ein optisch gelesener musikalischer Text mit einer Inszenierung überkreuzt – Freiheit, die gemeint ist oder Erkenntnislust des Zufalls?
Man mag es im Kontext des zuvor Gelesenen auch so sehen: Die Zurückhaltung auf ausgetretenen Hauptwegen, die Erkundung selten betretener Nebenpfade ist ein Freiheitszeichen, das den subjektiven Faktor ins Recht setzt. Denn „das Subjekt, seine Energie“, kann „als ein Moment des kapitalistischen Verwertungsprozesses“ erscheinen, zum anderen kann der „subjektive Faktor“ als ein „Moment des Widerstandes gegen technokratische Gesellschaftsstrukturen“ eingeschätzt werden (Klaus Horn 1972), und „Widerstandslinien“, wie gesagt, versprechen Rautmann/Schalz aufzuzeigen. In Spahlingers Orchesterwerk „passage/paysage“ gelangen diese Impulse zur Konkretion, so dass es ein „Schlüsselwerk“ für den befragten Zeitraum der letzten 25 Jahre genannt werden darf. Die „Einheit von Bewegung und Stillstand“ (S. 1185) ließe sich ebenso begreifen als die von Mikro- und Makrozeit oder Kunstdenken und gesellschaftlichem Handeln.
Zeitansage
Es gibt einige (wenige) Beispiele schlechter Allgemeinheit, einige Sprachfiguren lesen sich – querstehend zum Gemeinten – eher so, als kämen sie aus Amtsstuben („ohne Zweifel und allgemein anerkannt“, „ist nur beizupflichten“), einige Anmerkungen fehlen. Dergleichen hält sich aber im Rahmen des Unvermeidbaren angesichts des Umfangs und der Kompliziertheit des Vorhabens. Ein Lesebuch des Jahrhunderts, nicht mehr, nicht weniger; eine Zeit-Ansage.